Chamissos Schatten: Kapitel 1 - Alaska und die aleutischen Inseln

Eine Filmkritik von Andreas Günther

Zwischen Zwiebeltürmen

Das Schöne an Literatur ist ja, dass sie in Regionen verschlagen kann, in denen sich ohne Verführung kaum jemand wiederfinden würde. So ist es mit Chamissos Schatten, Ulrike Ottingers monumentalem Dokumentarfilmwerk, von dem das erste Kapitel Alaska und die Aleuten-Inseln nun auf geduldige und aufmerksame Kinozuschauer wartet. Der Gesamttitel verweist auf den deutschen Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso (1781-1838), genauer auf sein Werk Peter Schlemihls wundersame Geschichte, in der ein Mann seinen Schatten verkauft. Ottinger sucht Chamissos Schatten und ist zugleich sein Schatten, wenn sie seine Weltreise von 1815 bis 1818 teilweise nachvollzieht und seinen Berichten darüber mit außergewöhnlichem Blick für historische und kulturelle Schichtungen begegnet.
Der Bezug zum Peter Schlemihl ist dabei äußerst vielsagend. Gleich zu Anfang liest Ottinger aus der Märchenerzählung von 1813 das Ende vor. Nachdem Schlemihl sich vom Geld für seinen Schatten getrennt hat, legt er sich alte Stiefel zu, die sich als Siebenmeilenstiefel erweisen, ihn über den Erdball tragen und ihm ein einsames Leben als Naturforscher erlauben. Die Allegorie ist klar: Da sagt sich einer von der merkantilen Welt los, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. Dies scheint sich auch für Chamisso zu erfüllen, als er an der Expedition des russischen Grafen Rumjanzew zur Entdeckung der Nordwestpassage teilnehmen darf. Aber der merkantilen Welt entkommt er nicht – er stößt auf sie in der abstoßendsten Form kolonialer Ausbeutung. So leicht lassen sich die Verstrickungen der Moderne nicht abschütteln – so wenig wie Traditionen. Davon handelt Ottingers Film.

Die erste Station ist Kamtschatka auf einer Halbinsel im ostasiatischen Teil Russlands. Im Jahr 1816 traf Chamisso dort ein, Ottinger zeigt uns den Fischerort im Jahre 2014, mit verrosteten Kuttern, alten Holzhäusern und Zwiebeltürmen russisch-orthodoxer Kirchen. Chamisso reiste an der amerikanischen Küste, vor Alaska, weiter. Ottinger zeigt uns dort gepflegte Holzhäuser, relativ neue Fähren und Boote – und Zwiebeltürme russisch-orthodoxer Kirchen. Verblüffenderweise wird in einem Stück USA uraltes Russland sichtbar. Der geschichtliche Hintergrund ist brutal: Im Auftrag des Zarenreichs richtete sich im 18. Jahrhundert die russisch-amerikanische Company in Alaska ein und versklavte die indigene Bevölkerung für die Jagd nach Seeottern, deren Fell in Europa so begehrt war. Chamisso kritisierte die russischen Grausamkeiten besonders auf den Aleuten scharf. Aber als er es nicht mehr aushielt, vergrub er sich ins Pflanzenstudium.

Ottinger jedoch schaut sich um und lässt die Menschen sprechen. Wer zuhört und zuschaut, vor dem breitet sich ein faszinierender, aber narbiger historisch-kulturell-religiöser Synkretismus aus, mit amerikanischen Ureinwohnern, die russische Weihnachtslieder singen und christliche Begräbnisrituale mit ihren Mythen bereichern. Eingebettet ist das in eine majestätisch schöne Landschaft, die Gräuel kennt, aber auch Zauberwälder hütet.

Chamissos Schatten: Kapitel 1 - Alaska und die aleutischen Inseln

Das Schöne an Literatur ist ja, dass sie in Regionen verschlagen kann, in denen sich ohne Verführung kaum jemand wiederfinden würde. So ist es mit „Chamissos Schatten“, Ulrike Ottingers monumentalem Dokumentarfilmwerk, von dem das erste Kapitel „Alaska und die Aleuten-Inseln“ nun auf geduldige und aufmerksame Kinozuschauer wartet.
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