Café Nagler

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Baked strudels and told stories

„Wo Kaffee serviert wird, da ist Anmut, Freundschaft und Fröhlichkeit.“ (Ansari Dierzeri Hanball Abd-al-Kadir, arabischer Scheich aus dem 16. Jahrhundert)
„Ich weiß nichts über das Café Adler. Ich weiß nur, dass Sie hübsche Augen haben“, schmachtet der selbsterklärte Kaffeehaus-Historiker Fred Riedel der jungen israelischen Filmemacherin Mor Kaplansky entgegen. Nicht einmal richtig zugehört hat er ihr, weder im Taxi, das er fährt, noch beim gemeinsamen Wandeln auf den historischen Spuren am heutigen Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg, der jetzt nicht gerade für seinen Großstadtglamour bekannt ist: Ausgewaschene Grau-in-Grau-Betonburgen und eine wild verwachsene Wiesenlandschaft über der Linie U8, nein, dieses Kreuzberger Tristesse-Total-Fleckchen war weder in den 1920ern noch sonst irgendwann bigger than life

Doch genau an derselben Stelle soll zwischen 1908 und 1925 ebenjenes berühmt-berüchtigte Café Nagler, so schlicht heißt auch Kaplanskys sehr persönliches Dokumentarfilmexperiment, einstmals gestanden haben. Das geht zumindest aus mehreren Aufzeichnungen des Berliner Landesarchivs hervor. Damals in Berlins glorreichster Zeit, als Menschen – nicht nur am Sonntag – auf der Straße wie in den Cafés besichtigt werden konnten, später auch im gleichnamigen Kultfilm (Menschen am Sonntag) aus der Feder einer damals noch blutjungen Film-Kollektiv-Bande um Kurt und Robert Siodmak sowie Edgar G. Ulmer und Fred Zinnemann. Das typisch großstädtische Sehen-und-Gesehen-Werden bekam durch ihre filigrane Filmpionierarbeit aus dieser Zeit noch einmal eine ganz andere Bedeutung. Lang, Fritz Lang, ist’s her sozusagen, die (film-)geschichtlich einmalige Ära des Weimarer Kinos: Schatten der Vergangenheit eben.

Im Jahr 1927 war das, als Teile Berlins sich trotz – oder gerade wegen – des politisch heraufziehenden, durch und durch braunen Gewitters noch einmal selbst feierten: Reparationszahlungen und Bankenkrisen hin oder her: „It’s (not) my cup of coffee“, hauptsache der Stoff stimmt – und ist immer in Reichweite. Und eben jene glamourösen Kaffehaus-Bunker mit Prachtleuchtern und silbernem Haus-Besteck dienten bekanntermaßen als begehrte Drogenumschlagplätze, um ein Stück weit der Realität zu entfliehen: Garniert von einem besonders leckeren Mohnkuchenstückchen, versteht sich. Und der Griff zur Brause mit Schuss war nicht weit.

In ebenjenem Café Nagler soll auch der Swing zum ersten Mal getanzt worden sein, munkelt Kaplanskys Oma Naomi, selbst eine renommierte Dokumentarfilmerin mit 40 Jahren Berufserfahrung im Gepäck, betont mysteriös gegenüber ihrer Enkelin. Um ihretwillen reist die 1980 geborene Regisseurin schließlich in ihrem eigenen Film in die deutsche Hauptstadt der Gegenwart, um gerade dort noch viel mehr über das gemeinsame wie kulturelle Erbe ihrer Familienzweige herauszufinden. Blöd nur, wenn sich schon nach wenigen Drehtagen herauskristallisiert, dass inzwischen keine ernstzunehmenden Zeitzeugen mehr ausfindig zu machen sind – und obendrein das historische Bild-, Ton- oder Quellenmaterial niemals für einen abendfüllenden Dokumentarfilm ausreichen wird. Schon kommt einem der nächste Berlin-Filmtitel unweigerlich ins Gedächtnis: Was tun, wenn’s brennt?

Daraufhin gesteht Mor Kaplansky im eigenen Off-Text, dass sie unmöglich mit leeren Händen ins Haus ihrer Oma zurückkehren könne – und entscheidet sich für einen nicht nur narrativ gewagten Coup: Kurzerhand castet sie selbst, eigentlich ein absolutes Unding im Geiste Klaus Wildenhahns oder Richard Leacocks, eine Handvoll Berliner Originale als potentielle O-Ton-Geber. Alsbald sind Fiktion und Wirklichkeit an dieser Stelle nicht mehr glasklar voneinander zu trennen – und so entstehen zwangsläufig und nacheinander tatsächlich immer mehr und mehr (Un-)Bilder aus dem Zeitgeist der Roaring Twenties vor dem inneren Auge des Zuschauers. Das kann man nun mögen oder bloß albern finden, eine Dokumentarfilmsünde ist dies im Geburtsjahr dieses Films (2015) auf keinen Fall mehr.

Im Gegenteil: Raffiniert montiert durch allerlei sorgsam ausgewählte Film-Kunst-Schnipsel aus den Händen von G.W. Papst (Die Büchse der Pandora) oder Walter Ruttmanns all-time-masterpiece Berlin – Die Sinfonie der Großstadt nimmt Kaplanskys an sich belangloses, lange Zeit mühsames Mockumentary-Schelmenstück in den letzten 20 Minuten intellektuell doch noch etwas an Fahrt auf. Einstein und Kafka beim Gugelhupf-Essen? „Ja, stimmt. Die waren immer da. Zusammen mit George Grosz, Alfred Döblin und Otto Dix.“ Wer’s glaubt, wird selig. Oder wütend. Denn wenn diese werten Herren dort tatsächlich so viel Bienenstich gegessen und gemeinsam quasi Stühle durchgesessen hätten wie in Kaplanskys Café Nagler, dann wäre das 20. Jahrhundert kulturell in Wirklichkeit um einiges ärmer gewesen. Obwohl: Da läuft schon wieder der nächste weiße Elefant durchs Café Nagler …

„Die beste Methode, das Leben angenehm zu verbringen, ist, guten Kaffee zu trinken. Und wenn man keinen haben kann, so soll man versuchen, so heiter und gelassen zu sein, als hätte man guten Kaffee getrunken.“ (Jonathan Swift)

Café Nagler

„Ich weiß nichts über das Café Adler. Ich weiß nur, dass Sie hübsche Augen haben“, schmachtet der selbsterklärte Kaffeehaus-Historiker Fred Riedel der jungen israelischen Filmemacherin Mor Kaplansky entgegen. Nicht einmal richtig zugehört hat er ihr, weder im Taxi, das er fährt, noch beim gemeinsamen Wandeln auf den historischen Spuren am heutigen Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg, der jetzt nicht gerade für seinen Großstadtglamour bekannt ist.
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