Auf Augenhöhe

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Abseits des Hüpfburgen-Frohsinns

Der zehnjährige Michi (Luis Vorbach) träumt den Traum vieler Heimkinder: Er wird seinen Vater kennenlernen und zu ihm ziehen. Eines Tages macht er sich auch tatsächlich auf, einen gewissen Tom Lambrecht (Jordan Prentice) zu besuchen, den er aufgrund eines Briefs seiner verstorbenen Mutter für seinen Erzeuger hält. Seinen vor Neid erblassten Zimmergenossen tröstet Michi mit den Worten, er komme ja nochmal zurück — um seine Sachen zu holen. Doch das Imponiergehabe und kindliche Wunschdenken erfahren eine Bruchlandung, als Michi sieht, dass sein Vater ein kleinwüchsiger Mann ist. Für einen geordneten Rückzug ist es zu spät, denn Tom liest den Brief, den Michi ihm vor dieser Entdeckung durch den Türschlitz warf, und besucht den Jungen, von dessen Existenz er nichts wusste, im Heim …
Was für ein Thema für einen Kinderfilm! Einen Jungen, der sich alterstypisch den Vater als strahlenden Helden und physisches Vorbild vorstellt, mit einem kleinwüchsigen Elternteil zu konfrontieren. Und damit überhaupt die junge Zielgruppe mit körperlichem Anderssein, das im Alltagsleben nicht selten peinlich-berührtes Wegschauen oder noch schlimmere Reaktionen hervorruft. Die Heimkinder überziehen Michi und seinen Vater mit brutalem Spott. Michi flüchtet ausgerechnet zu Tom, der ihn bereitwillig aufnimmt, obwohl ihm der Nachwuchs die kalte Schulter zeigt und ihm die Schuld an seiner psychischen Misere gibt.

Das Regieduo Evi Goldbrunner und Joachim Dollhopf wollte seinen ersten Langspielfilm bereits vor acht Jahren in Angriff nehmen, doch er ließ sich nicht finanzieren. Ein häufiges Problem gerade im kostenintensiven Bereich des Kinderfilms, wo eine große Scheu vor sperrigen Stoffen zu herrschen scheint. Aber dann wurde Auf Augenhöhe von der 2012 gegründeten Initiative „Der besondere Kinderfilm“ unterstützt, die sich der Förderung originärer Geschichten widmet — also von Stoffen, die nicht auf Marken und Buchvorlagen basieren. Nach Winnetous Sohn und Ente gut! ist dieses Drama nun der dritte Spielfilm, den die Initiative auf den Weg gebracht hat und man muss hinzufügen, zum Glück!

Dass sich der schockierte Michi bei Tom einquartiert, mag auf den ersten Blick irritieren. Doch das hat schon auch seine innere Logik, weil die Sehnsucht nach einem Vater und einem Zuhause so viel mehr umfasst als nur den Wunsch, damit zu repräsentieren. Tom, der sich immer noch fragt, warum Michis Mutter, seine große Liebe, ohne ein Wort aus seinem Leben verschwand, ist voller Empathie für Michi. Auf einmal kommt ihm die Solidarität seiner normalwüchsigen Freunde aus dem Ruderteam aufgesetzt und herablassend vor und der Schmerz der Andersartigkeit, der ihn latent immer begleitet, meldet sich laut zurück. Toms Toleranz und Großzügigkeit ihm gegenüber lassen Michi nicht unbeeindruckt und der aufmüpfige, freche Junge und sein Vater raufen sich allmählich zusammen.

Luis Vorbach spielt Michi mit kraftvoller Präsenz, kindlichem Witz und einer guten Portion Nachdenklichkeit. Der Kanadier Jordan Prentice strahlt als Tom einen tiefen Ernst aus, der sich auf die ganze Geschichte auswirkt. Er wird aufgrund eines überraschenden Twists im letzten Abschnitt sogar noch intensiviert. Allerdings hätte diese spannende Zweierbeziehung noch viel mehr Ausbau und Lebendigkeit vertragen. Oft wirkt sie etwas reserviert, wozu vielleicht auch der Umstand beiträgt, dass Prentices deutsche Stimme einem Synchronsprecher gehört.

Es wäre wohl auch kaum möglich gewesen, bei solch einem komplexen und schwierigen Thema alles richtig zu machen. Zum Beispiel den leicht pädagogischen Tonfall, der sich manchmal einschleicht, besser zu kontrollieren. Auf Augenhöhe aber führt den wichtigen und trotz kleiner Mängel bewegenden Beweis, wie viel es im Kinderfilm zu entdecken gibt, wenn sich nur jemand traut, die Domäne des Hüpfburgen-Frohsinns zu verlassen.

Auf Augenhöhe

Der zehnjährige Michi (Luis Vorbach) träumt den Traum vieler Heimkinder: Er wird seinen Vater kennenlernen und zu ihm ziehen. Eines Tages macht er sich auch tatsächlich auf, einen gewissen Tom Lambrecht (Jordan Prentice) zu besuchen, den er aufgrund eines Briefs seiner verstorbenen Mutter für seinen Erzeuger hält. Seinen vor Neid erblassten Zimmergenossen tröstet Michi mit den Worten, er komme ja nochmal zurück — um seine Sachen zu holen.
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Meinungen

@PollySees · 12.09.2016

Der 10-jährige Michi lebt seit dem Tod seiner Mutter in einem Kinderheim und wünscht sich nichts sehnlicher als eine richtige Familie. Zufällig findet er einen Brief, der ihm konkrete Hinweise auf seinen Vater gibt. Tatsächlich macht er ihn ausfindig. Aber statt des großen, kräftigen Helden, den er sich immer vorgestellt hat, findet er den kleinwüchsigen Tom. Michi ist schwer enttäuscht und schämt sich für seinen neu gefundenen Erziehungsberechtigten. Aber auch in Tom brechen sich durch die neue Situation lange unterdrückte Selbstzweifel Bahn... Schon die erste Generation der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ wartete mit mutigen Geschichten jenseits kitschiger Buchverfilmungen auf. Mit diesem Film des zweiten Jahrgangs nun wird deutlich, was das Ziel der Projektes ist: Anspruchsvolles Kino für junge Zuschauer, das sich mit originellen Geschichten traut, auch schwierige Themen anzusprechen und dabei trotzdem unterhaltsam zu sein. Feinfühlig werden in diesem Film beide Seiten beleuchtet, ohne in Gefühlsduselei zu verfallen. Die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit auf Elternseite wie auch die kindliche Erkenntnis, dass die eigenen Eltern Schwächen und Fehler haben, machen ihn dabei zu einer universellen, berührenden Fabel für kleine und große Zuschauer. „Auf Augenhöhe“ geht völlig zu Recht als einer von acht Filmen für den deutschen Oscar-Beitrag ins Rennen. Eine Ehre, die nur wenigen deutschen Kinderfilmen bisher zu Teil geworden ist. Filmkritiken in 140 Zeichen - @PollySees