Als Paul über das Meer kam - Tagebuch einer Begegnung (2017)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Tugend der Geduld, Dilemma des Beobachters

Dokumentarfilme zu machen erfordert einen langen Atem, ein Gespür für Wendungen und Entwicklungen und vor allem viel Geduld. Das gilt für den Filmemacher ebenso wie für den/die Produzenten — und bei Als Paul über das Meer kam — Tagebuch einer Begegnung von Jakob Preuss zeigt sich, dass dieser Langmut mitunter für beide Seite ein großer Gewinn sein kann.

Ursprünglich hatten der Filmemacher (The Other Chelsea) und seine Produzenten Jonas und Jakob Weydemann einen anderen Film im Kopf gehabt. Es sollte schon um die Flüchtlingsfrage gehen, um FRONTEX und die Lage an den EU-Außengrenzen, doch die zufällige Begegnung mit dem Kameruner Paul änderte alles: Preuss traf ihn in einem Wald in Marokko nahe der spanischen Exklave Melilla, die von einem meterhohen Zaun vor dem Zustrom der Migrant_Innen aus Afrika abgeschirmt ist. Sie lagern im Umland Melillas in provisorischen Unterkünften, die fast immer streng nach Nationalität der Flüchtlinge sortiert und organisiert sind. Die Nigerianer, die Kameruner, jedes Land hat seine eigene kleine Zeltstadt errichtet. Hier warten sie darauf, dass es endlich losgeht. Paul, der schon über 3o Jahre alt ist — zumeist sind die Flüchtlinge jünger als er — ist ein netter, zurückhaltender und überkorrekter Mann. Offen und bereitwillig erzählt er von seiner Odyssee, die ihn hierher brachte, weil er zuhause keine Perspektive mehr sah, als er wegen Intrigen und seiner Beteiligung an Protesten von der Uni flog. Anders als man das hier in Europa zumeist hört, bereitete er seine Flucht gen Norden heimlich vor, weihte seine Familie nicht ein, sondern machte sich einfach ohne Abschied auf den Weg. Ein Verhalten, das, wie der Regisseur in Filmgespräch bemerkte, ebenso häufig vorkommt wie das Klischeebild, das wir hierzulande im Kopf haben: Dass die Familie bewusst einen auswählt, der es in Europa schaffen soll, schaffen muss. Doch egal auf welche Weise man geht: Zurück will hier keiner. Denn die Chancen in ihrer Heimat auf anständige Weise etwas zu erreichen, gehen gegen Null.

Weil die Reise aus seiner Heimat hier an den Nordrand des afrikanischen Kontinents viel teurer war als erwartet, ist Paul, als er dem Filmemacher aus Deutschland begegnet, schon eine kleine Ewigkeit hier: Das Geld für die Überfahrt hat er sich im nicht gerade wohlhabenden Marokko mühsam erarbeitet. Nun kann es jederzeit losgehen. Wann es genau soweit ist, weiß man nie, hier scheinen alle auf Abruf zu leben, bis sie dann endlich dran sind mit ihrer lebensgefährlichen Passage. Und so ergeht es auch Jakob Preuss so: Als er sich nach Pauls Aufenthalt erkundigt, erzählt ihm einer der Nachbarn, dass der sich auf den Weg gemacht hat, dass man aber schon zwei Tage von ihm kein Lebenszeichen erhalten habe, was sehr ungewöhnlich und besorgniserregend sei. Später dann bestätigen sich die Befürchtungen, als Jakob Preuss Berichte von einem im Mittelmeer in Seeenot geratenen Boot sieht — einer der Überlebenden, die von der spanischen Küstenwache bzw. einem FRONTEX-Schiff aus dem Wasser gezogen werden, ist Paul, der es nun immerhin nach Europa geschafft hat — wenn auch nur denkbar knapp.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist Jakob Preuss dann klar, dass er seinen Protagonisten gefunden hat, dass seine Beschäftigung mit der „Flüchtlingskrise“ durch Paul überhaupt erst ein Gesicht bekommen hat. Allerdings ergibt sich genau damit auch ein ganz existenzielles Problem für den Filmemacher und seine Beziehung zu Paul: Inwiefern kann oder darf er überhaupt eingreifen? Erwartet Paul das vielleicht sogar von ihm? Als eine Art Gegenleistung, dass dieser ihn an seinem Leben teilhaben lässt? Jakob Preuss ist von Hause aus Jurist und weiß deshalb um die vielen Fallstricke, die ihn erwarten — und so hält er sich bedeckt, was Paul nicht immer versteht. Und doch, wenn es hart auf hart kommt und Paul eine Zwischenstation in Paris einlegen muss, dann nimmt der Filmemacher, der selbst in der französischen Hauptstadt gewohnt hat, den Telefonhörer in die Hand und redet so lange mit Bekannten, bis sichergestellt ist, dass sein Protagonist nicht ohne Papiere und ohne Geld unter der Brücken schlafen muss.

Jakob Preuss hat seinen Film in der Tat wie ein Tagebuch gestaltet, das dann einsetzt, als er Paul zum ersten Mal sieht. Am Ende wird dieses Tagebuch bei fast 800 Tagen angekommen sein, wobei es natürlich immer wieder größere Lücken und Pausen gibt, die bisweilen durch gezeichnete oder animierte Einschübe illustriert werden. Schließlich hat sich auch während der Abwesenheit des Regisseurs viel, oft sogar Entscheidendes ereignet. Oft haftet dem Film etwas Skizzenhaftes an: Als Paul über das Meer kam ist ein kantiger, manchmal beinahe roher Dokumentarfilm, der an die Tugenden journalistischer Reportagen der ganz Großen ihrer Zunft erinnert: Der Film beweist, dass Neugier und Haltung, Distanz und Empathie, Geduld und Spontanität, aber auch die Bereitschaft, die eigenen Unsicherheiten zuzulassen, nicht allein journalistische, sondern ganz allgemein (zwischen)menschliche Tugenden sind, derer wir uns immer wieder erinnern und versichern müssen. Und er zeigt ein menschliches Gesicht — eben jenes von Paul -, nach dessen Anblick viele das Gerede um die „Flüchtlingskrise“ mit anderen Augen sehen werden. Zumindest dann, wenn sie dazu bereit sind.
 

Als Paul über das Meer kam - Tagebuch einer Begegnung (2017)

Dokumentarfilme zu machen erfordert einen langen Atem, ein Gespür für Wendungen und Entwicklungen und vor allem viel Geduld. Das gilt für den Filmemacher ebenso wie für den / die Produzenten — und bei „Als Paul über das Meer kam — Tagebuch einer Begegnung“ von Jakob Preuss zeigt sich, dass dieser Langmut mitunter für beide Seite ein großer Gewinn sein kann.

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Meinungen

Gemeinhardt Paul Wernigerode · 28.08.2017

Guten Tag ...

gibt es diesen Film schon/bald auch als DVD zu kaufen ?

Vielen Dank für eine Information dazu ...

Paul Gemeinhardt/Wernigerode