Toto and His Sisters

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Strong and stubborn?

Wann seine Mutter denn zurückkommt, fragt der zehnjährige Toto seine jugendlichen Schwestern Andreea und Ana, mit denen er in desolaten Räumlichkeiten im ebensolchen Ferentari-Viertel in Bukarest haust, während er bereits reichlich hungrig darauf wartet, dass eine einfache Suppe gekocht wird, für die allerdings erst noch eine Art Herd improvisiert werden muss. Das geht dich nichts an, lautet die lakonische Antwort, und rasch zeigt sich, dass ein grober und gröbster Umgangston zum Alltag dieser Familie und dieses Milieus der jungen Randgestalten der rumänischen Gesellschaft gehört. Später treffen noch ein paar drogenaffine Typen ein, besprechen ihre Tagesgeschäfte und injizieren sich schamlos Heroin, während Toto auf der Couch lümmelt – offensichtlich ein gewohnter Anblick für den Jungen, dessen Mutter wegen Drogendelikten bereits einige Jahre im Gefängnis sitzt und der notdürftig hauptsächlich von Ana (17) versorgt wird, während Andreea (15) sich allzu häufig dieser Aufgabe entzieht, bevorzugt durch die Hauptstadt vagabundiert und nicht selten auch über Nacht fortbleibt, trotz der Ermahnungen ihrer Lehrerinnen. Als Ana wegen Drogenhandels angeklagt wird, verschärft sich die Situation noch stärker.
Hier handelt es sich nicht etwa um einen ästhetisierten, zugespitzten und provokanten Spielfilm über unterprivilegierte Kinder und Jugendliche, die viel zu früh schutzlos sich selbst überlassen sind und möglicherweise nun eine Art Abenteuer oder wundersame Rettung erleben, sondern um den Dokumentarfilm Toto and His Sisters von Alexander Nanau, der auch das „Drehbuch“ dazu verfasste, die Kamera führte und entscheidend beim Schnitt mitwirkte. Nicht nur über sie, sondern auch mit diesen drei Kindern in der Krise wollte der aus Rumänien stammende Filmemacher diese Dokumentation erstellen, und so wurde die widerborstige Andreea ebenfalls mit einer Kamera ausgestattet, um einen Teil ihrer Geschichte aus ihrer persönlichen Perspektive mit ganz eigenen Bildern zu gestalten. Im Zuge der Dreharbeiten lebte der Regisseur sozusagen über einen Zeitraum von vierzehn Monaten über weite Strecken mit seinen Protagonisten und verbrachte ausführliche Zeiten mit ihnen, wodurch ein gleichermaßen signifikanter wie präziser sowie emotional enger Kontext zwischen dem Alltagsgeschehen der porträtierten Personen und der Produktion der Dokumentation entstand.

Die Schule im Kinderclub, die Toto besucht, stellt das wichtigste strukturgebende Element in seinem Leben dar, auch wenn er nach einer schlafarmen Nacht und oftmals auf sich selbst gestellt nicht immer oder verspätet dort erscheint. Darüber hinaus betätigt er sich regelmäßig an einem Hip Hop Projekt, wo er gemeinsam mit anderen Kindern seines Alters Tanzschritte und Choreographien einstudiert, mit sichtlichem Vergnügen an der Musik, der Bewegung und der Gesellschaft. Auch Andreea sieht man im offen gestalteten Unterricht, wo sie beispielsweise mit dem mühsamen Erschließen eines Textes beschäftigt ist, doch dass die Schule offenbar gerade nicht ihr Territorium ist, wird rasch deutlich. Auch Ana findet sich nach ihrer doch recht baldigen Entlassung aus der Untersuchungshaft erneut im betreuten Lernzentrum ein, von wo aus sie nach einer beruflichen Perspektive sucht. Nach dem Schock des Gefängnisses und Totos tränenreichem Gefühlsausbruch bei ihrer Rückkehr schwört die Älteste der verlassenen Familie, keine Drogen mehr zu konsumieren und auch keinen Junkie mehr in die Wohnung zu lassen, doch das der Verzweiflung entsprungene Versprechen löst sich alsbald wieder in Rausch auf.

Sei stark und stur („strong and stubborn“), empfiehlt ihr eine Betreuerin in der Einrichtung an Stelle von Selbstmitleid, als Andreea angesichts des Rückfalls ihrer Schwester ihren Kummer hinausweint. Neben dem harten, doch immerhin noch minimal funktionierenden Alltag der Familie im Bukarester Ghetto sind es Szenen wie diese oder auch der Gefängnisbesuch der Kinder bei ihrer Mutter, die ihr Elend ganz besonders betonen und beim Zusehen das Auge erzittern lassen. Ohne Ausrichtung auf einen extra effektvollen oder sensationsträchtigen Voyeurismus gelingt es Alexander Nanau mit seiner schlichten, unkommentierten Darstellungsform, Toto and His Sisters zu einer beispielhaften und doch ganz besonderen Parabel über das Leben junger Menschen unter eklatant widrigen Bedingungen in Europa im Hier und Jetzt werden zu lassen. Dass diese außerordentliche und doch zumindest innerhalb der Dokumentation interventionsfreie Nähe und die darin enthaltene Distanz sich als ungeheuer schwierige Aufgabe ausnimmt, die ein Balancieren zwischen komplett unterschiedlichen Lebenswelten erfordert, davon berichtet der nun seit rund dreißig Jahren in Deutschland lebende Regisseur auch in Interviews.

Bereits mit einigen Auszeichnungen prämiert wird Toto and His Sisters am 17. Mai mit dem Dokumentarfilmpreis der SOS-Kinderdörfer ausgezeichnet. Jury-Mitglied Heribert Prantl begründet diese Entscheidung unter anderem auch mit der beim Zuschauer ausgelösten Empathie für die tapferen Protagonisten, die ihrem Elend und der Hoffnungslosigkeit ihres Milieus gemeinsam eine unerschütterliche Kraft im Leben und Lernen entgegenzusetzen vermögen. Wenn wir gegen Ende des Films den überwältigten Toto in schickem Zwirn als Tänzer und schließlich zweiten Sieger des Hip Hop Junior Wettbewerbs betrachten, wird erneut deutlich, wie wichtig es gerade für Kinder in seiner Situation ist, derartige Förderungen und vor allem soziale Moratorien zu erhalten. Hier hinzuschauen, wozu uns Alexander Nanau eindringlich einlädt, ist so schmerzlich wie notwendig, und die ambivalenten, doch unübersehbar auch definitiv positiven Entwicklungen dieser jungen Menschen beschämen triumphierend die Gleichgültigkeiten, Vorurteile und Verantwortungsausschleichereien so mancher Erwachsener, nicht nur im Film.

Toto and His Sisters

Wann seine Mutter denn zurückkommt, fragt der zehnjährige Toto seine jugendlichen Schwestern Andreea und Ana, mit denen er in desolaten Räumlichkeiten im ebensolchen Ferentari-Viertel in Bukarest haust, während er bereits reichlich hungrig darauf wartet, dass eine einfache Suppe gekocht wird, für die allerdings erst noch eine Art Herd improvisiert werden muss.
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