Totem (2011)

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Nur Skorpione begehen Selbstmord

Man muss schon etwas höher greifen, um die Stimmung von Jessica Krummachers Debütfilm Totem zu beschreiben. Deshalb sollten wir gleich zu Beginn der Rezension Schiller zu Rate ziehen: „Abend ward‘s und wurde Morgen / Nimmer, nimmer stand ich still / Aber immer blieb‘s verborgen / Was ich suche, was ich will.“ Es sind lediglich vier Zeilen, doch sie wirken wie der kompromisslose Spiegel für die rauhe und perfide Stimmung von Krummachers Bürgertums-Horror-Fabel.

Die Grundkonstellation von Totem ist relativ simpel. Familie Bauer wohnt im Ruhrgebiet. Die vierköpfige Familie kann den Alltag nicht mehr bewältigen, deshalb wird mit Fiona (Marina Frenk) ein junges Hausmädchen eingestellt. Doch bereits mit Fionas Ankunft im Reich der Bauers beginnt ihr systematischer Abstieg in die großbürgerliche Hölle. Die junge, schüchterne und schweigsame Fiona findet sich im Würgegriff von sadistischen Gesellschaftsspielen und verbalen wie körperlichen Anfeindungen und Erniedrigungen wieder. Vater Wolfgang (Benno Ifland) und Ulli (Fritz Fenne), der doppelt so alte Freund der minderjährigen Tochter der Bauers, spielen mit Fiona „Spiele“, deren unterschwellige Perversion nicht selten an eine Vergewaltigung heranreicht. Und auch das giftige Zischen der Mutter Claudia (Natja Brunckhorst), einer sadistischen Hexe, quält die unschuldige Haushälterin. Es wirkt, als wäre Fiona in den Besitz der Familie übergegangen und sei lediglich ein weiteres Objekt dieser großbürgerlichen Welt, die gelangweilt und antriebslos dahinvegetiert.

Mit einem Minimalbudget von 25.000 Euro und noch dazu ohne die übliche finanzielle Unterstützung der Fernsehanstalten hat Krummacher einen Film gedreht, der künstlerisch keine Einmischungen von Außen erfahren hat. In diesem Sinne darf Totem als Essenz dieser vielversprechenden Filmemacherin verstanden werden. Ihr erster Spielfilm lässt Einflüsse deutlich werden, die sehr stark im zeitgenössischen österreichischen Kino liegen. Man denkt zwangsläufig an Jessica Hausners Hotel, Ulrich Seidels perfide Alltagsbeschreibungen oder auch an die Kompromisslosigkeit eines frühen Michael Haneke. Doch Krummachers Film, das mag vielleicht sein größter Erfolg sein, ermöglicht uns auch einen Blick auf ein anderes deutsches Kino. Er lässt von einer vitalen, funkelnden Filmlandschaft träumen, die hierzulande möglich wäre, wenn gewisse Produktionsstrukturen anders geordnet wären.

Totem ist aber zuallererst ein mutiges Debüt einer Regisseurin, die sich traut Figuren auf der Leinwand zu präsentieren, die nicht der sozialrealistischen Klischeevorlage eines durchschnittlichen Fernsehdrehbuches folgen. Elegant und mit einem feinen Gespür für nuancierte Stimmungsverschiebungen ist Totem ein Film über den Verlust einer Menschlichkeit, die in den vorgefertigten Ritualen, Regeln und Ordnungen einer Gesellschaft erstarrt ist.

Und was ist mit Fiona? Sicherlich wäre Totem um einiges schwächer, wenn Krummacher Fiona nur zur leeren Projektionsfläche degradiert hätte. Aber Fiona ist nicht nur Katalysator der Geschichte, sondern auch eine Figur, deren Grundierung eine sehr fassbare und tiefe Einsamkeit und Trauer verströmt. Eine sparsam inszenierte Liebesgeschichte mit einem jungen Bademeister suggeriert einen Ausweg, eine mögliche Flucht. Doch da hat der aggressiv-perverse Reihenhaus-Terror der Bauers bereits einen derart starken Einfluss auf das Leben der jungen Frau, dass sie dem Verhältnis wohl kaum mehr entkommen wird. Diese verzweifelte Stimmung kulminiert in einem zynischen aber sehr bezeichnenden Dialog zwischen Fiona und dem kleinen Jürgen (Cedric Koch): „Skorpione bringen sich selbst um, wenn sie vom Feuer eingeschlossen sind. Wusstest du das?“ „Noch nie gehört.“

Etwas später blickt die Kamera auf den Garten der Bauers. Der Blick ist so durchdringend, dass er fast künstlich wirkt. Dennoch wird aus dem Garten in unserer Vorstellung der große Wald. Und dieser verströmt seit jeher verlockend seine ewige Ruhe und einen unvorstellbar erlösenden Frieden.
 

Totem (2011)

Man muss schon etwas höher greifen, um die Stimmung von Jessica Krummachers Debütfilm „Totem“ zu beschreiben. Deshalb sollten wir gleich zu Beginn der Rezension Schiller zu Rate ziehen: „Abend ward‘s und wurde Morgen / Nimmer, nimmer stand ich still / Aber immer blieb‘s verborgen / Was ich suche, was ich will.“ Es sind lediglich vier Zeilen, doch sie wirken wie der kompromisslose Spiegel für die rauhe und perfide Stimmung von Krummachers Bürgertums-Horror-Fabel.

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