Tilt

Eine Filmkritik von Martin Gobbin

Bulgarisches Relevanzkino

Der Nachwuchsschauspieler Ovanes Torosian war im Jahr 2011 in zwei bulgarischen Filmen zu sehen: Erstens in Avé – einer wunderbar zarten Liebesgeschichte, die der Frage nachgeht, wie wir uns mit Lügen vor der kalten Realität schützen. Zweitens in Tilt – einem lauwarmen Drama über die politische Wende in Bulgarien. Tilt ist ziemlich genau das, was der deutsche Regisseur Dominik Graf im vergangenen Jahr als „Relevanzkino“ abgewatscht hat: Ein sprödes Werk, das ohne Filmförderung nicht existieren würde, davon aber reichlich bekommen hat, weil es einen hohen politischen Anspruch mit einem eher geringen Unterhaltungswert vereint.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Politik und Geschichte zu reflektieren, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Filmen. Und ein Filmfördersystem ist essenziell, um Projekte zu unterstützen, die nicht massentauglich, aber künstlerisch wertvoll sind. Dass dabei auch viel Mittelmaß wie Tilt entsteht, ist unvermeidlich und deshalb kein Argument gegen Filmförderung an sich. Schade ist nur, dass so ein Film dann die bulgarische Oscar-Nominierung einheimst und einen deutschen Kinoverleih findet, während Avé außerhalb des internationalen Festivalbetriebs kaum beachtet wird. Aber ein Film über soziale Umbrüche wird eben gemeinhin als „gewichtiger“ angesehen als eine Romanze, auch wenn letztere ebenso intelligent wie poetisch ist. So geht letztlich Relevanz vor Qualität.

Tilt dreht sich um eine Clique von Freunden kurz vor der politischen Öffnung Bulgariens. Die vier Jungs frönen mit ihren Skateboards einem höchst verwerflichen westlichen Lebensstil und tragen auch sonst nicht gerade zum Fortschritt des bulgarischen Sozialismus bei. Im Keller eines Wohnhauses spielen sie Flipper, horten eingeschmuggelte Pornos und schreiben rebellische Slogans an die Wand. Als sie deshalb festgenommen werden, beschließen sie, unmittelbar nach ihrer Freilassung in den Westen zu fliehen, nach Deutschland. Allerdings ohne ihren Kumpel B-Gum (Alexander Sano), den sie als Maulwurf verdächtigen.

Weil Stash (Yavor Baharov) aber seine Freundin Becky (Radina Kardjilova) – die Tochter eines hohen Geheimdienstlers – nicht vergessen kann, kehren sie bald aus dem deutschen Asyl zurück. Wie sehr sich ihr Heimatland mittlerweile verändert hat, zeigt Regisseur Viktor Chouchkov anhand der Beziehung der zwei Liebenden. Zwischen ihnen ist nichts mehr wie zuvor, denn Beckys durch den politischen Umbruch noch mächtiger gewordener Vater hat ihnen nicht nur jeglichen Kontakt verboten und Stash mit Gewalt gedroht – er hat Becky auch gegen ihren Willen mit B-Gum verheiratet, aus dem ein schmieriger Unternehmer geworden ist.

Chouchkovs Idee, die Auswirkungen der politischen Transformation anhand privater Veränderungen zu zeigen, ist ein durchaus geschickter Zug. Der Bruch in der bulgarischen Nationalhistorie führt zu Brüchen in Biografien und Beziehungen. Während sich die Kluft zwischen Volk und Souverän endlich schließt, entstehen neue Spaltungen zwischen Freunden und Partnern. Diese Risse im Leben der Protagonisten zeigen sich schon in den ersten Bildern – hier teilen Sprünge die Leinwand in zwei asymmetrische Hälften.

Auch sonst ist die Bildsprache von Tilt mitunter einfallsreich. In einer der schönsten Szenen sehen wir, wie Stash und Becky gemeinsam in einem Rollstuhl sitzen, mit wahnwitziger Geschwindigkeit eine abschüssige Straße hinab fahren und dabei sogar ein Auto überholen. Ein martialisches Nationaldenkmal etabliert der Film früh als gewaltig und erdrückend – doch nach der Wende steht davor plötzlich eine Halfpipe, auf der Jugendliche mit ihren eben noch systemfeindlichen Skateboards rumbrettern. Und auch das titelgebende Motiv des „Tilt“ – die Disqualifikation als Strafe für das illegale Rütteln am Flipperautomaten – fügt sich gut ein in die Geschichte um einen Systemsturz und dessen Konsequenzen.

Man kann Regisseur Viktor Chouchkov also nicht vorwerfen, in Tilt große Fehler zu begehen. Gut, ein gleich mehrfach genutzter Gag mit einem deutschen Kneipenstammgast wirkt ebenso albern wie sinnfrei – und das Ende mag ein bisschen überzuckert sein, wenn die Freiheit märtyrerhaft der Liebe geopfert wird. Doch das Problem dieses Films liegt weder auf der erzählerischen noch der stilistischen Ebene, sondern auf der emotionalen: Es gibt einfach zu viele Figuren, die wir zu wenig kennenlernen, um affektiv in ihr Schicksal eingebunden zu werden.

Tilt ist ein vollkommen solider Film – und genau das ist das Problem. Er ist weder im positiven noch im negativen Sinne bemerkenswert, er verharrt im Status des Durchschnittlichen. Ein richtig schlechter Film würde da weitaus stärker im Gedächtnis bleiben, einfach weil er Emotionen wachruft, indem er den Zuschauer verärgert. Das wäre zumindest interessant. Tilt aber ist lediglich relevant.

Tilt

Der Nachwuchsschauspieler Ovanes Torosian war im Jahr 2011 in zwei bulgarischen Filmen zu sehen: Erstens in „Avé“ – einer wunderbar zarten Liebesgeschichte, die der Frage nachgeht, wie wir uns mit Lügen vor der kalten Realität schützen. Zweitens in „Tilt“ – einem lauwarmen Drama über die politische Wende in Bulgarien. „Tilt“ ist ziemlich genau das, was der deutsche Regisseur Dominik Graf im vergangenen Jahr als „Relevanzkino“ abgewatscht hat:
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