The Woman Who Left (2016)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Ein Sieg der Menschlichkeit

Wer im Februar diesen Jahres auf der Berlinale A Lullaby to the Sorrowful Mystery, den letzten Film des philippinischen Regisseurs Lav Diaz sehen wollte, musste sich acht Stunden (unterbrochen von einer nochmal einstündigen Pause) ins Kino begeben. Insofern war das neue Werk des Filmemachers mit einer vergleichsweise schlanken Laufzeit von vier Stunden fast schon ein Kinderspiel für die Gesäßmuskulatur altgedienter Kritiker-Haudegen und Edelfedern. Zumal das Werk selbst kein Bilderbogen der Geschichte seines Landes war, sondern eine durchaus spannende Geschichte im packenden Stil einer Mischung aus Sozialreportage und Rachegeschichte erzählte.

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Angesiedelt ist die Geschichte im Jahr 1997, das nicht nur deswegen bedeutsam ist, weil Diana und Mutter Theresa da starben, sondern auch, weil die Philippinen in diesem Jahr einen sprunghaften Anstieg von Entführungen zu verzeichnen hatte, was freilich nur die Grundierung für die Story bildet. Die gehört nämlich ganz einer Frau namens Horacia Somorostro, die seit 30 Jahren im Gefängnis ist — verurteilt, wie sich nun herausstellen wird, für einen Mord, den sie gar nicht begangen hat. Die wahre Schuldige ist ausgerechnet ihre beste Freundin Petra, die auf Geheiß von Horacias früherem Freund, dem reichen und mächtigen Rodrigo Trinidad, den Mord ausführte, um ihn der Frau in die Schuhe schieben zu können. Dreißig Jahre unschuldig im Gefängnis — und dann klärt sich der Vorwurf auf diese Weise auf — man kann sich ungefähr vorstellen (bzw. kann man genau das natürlich nicht), was das mit der Frau angerichtet haben dürfte. Nun ist sie also frei und auf der Suche nach dem Leben, das sie vor langer Zeit zurückließ — und auf der Suche nach Rodrigo Trinidad, dem Mann, der verantwortlich ist für diese gestohlene Zeit, dieses gestohlene Leben.

Nach einer Begegnung mit ihrer Tochter, bei der sie vom Verschwinden ihres Sohnes erfährt, lässt sie sich an dem Ort nieder, an dem der Verursacher all des Leides lebt. Doch trotz der Rachegedanken, die sie nicht los wird, ist Horacia — und das ist erstaunlich genug nach all dem, was ihr widerfahren ist — ein guter Mensch. Und als solcher tritt sie auch an ihrem neuen Wohnort in Erscheinung, sie kümmert sich liebevoll um einen buckligen Verkäufer von Köstlichkeiten wie gebratenen Gänseeiern, umsorgt eine geisteskranke obdachlose und stößt schließlich auf einen Transvestiten, den sie gesundpflegt, als dieser übel zugerichtet wird. Dessen Dankbarkeit ist so groß, dass er alles für Horacia tun würde — und das stellt er dann auch unter Beweis …

Große Weltliteratur hat sich Lav Diaz zum Vorbild genommen für sein Drama: Leo Tolstois Erzählung Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nie sogleich stand Pate für die Geschichte der Horacia, wobei es sich bei The Woman Who Left nicht um eine genaue Adaption des Werkes handelt, sondern Tolstois Stoff eher inspirierend auf den Filmemacher einwirkte. Dennoch wirkt die Geschichte auch durch alle Veränderungen, Verfremdungen und Medienwechsel hindurch wie große und vor allem große russische Literatur. Die schicksalhafte Verknüpfung verschiedener Menschen miteinander, die liebevoll beobachtete Solidarität der sogenannten „kleinen Leute“, das epische Ausmaß der Strafe und der still schlummernde Wunsch nach Rache — das alles erinnert nicht nur an Tolstoi, sondern auch an andere russische Romanciers.

Konterkariert wird das in langen und überwiegend (bis auf eine Ausnahme) starren Schwarzweiß-Einstellungen, die im Gegensatz etwa zum Vorgängerfilm nicht so sehr die Zeitdauer ausreizen, sondern verhältnismäßig schlank geraten sind, so dass die knapp vier Stunden Laufzeit vergleichsweise kurzweilig und wegen der Konzentration und emotionalen Nähe zu Horacia fesselnd geraten. Dennoch lassen die Bilder und Szenen sowie deren Dauer viel Platz für das Hinsehen und das Einfühlen in die Situation; parallel zum eigenen Film kreiert Lav Diaz eine zweite Ebene, einen zweiten Film, den er im Kopf des Zuschauers verankert — und genau darin besteht auch eine der vielen Qualitäten dieses Werks. Schade nur, dass die Filme von Lav Diaz allein schon wegen ihrer Laufzeit so selten im deutschen Kino zu sehen sind — erinnern sie uns doch an einen Luxus, dem man viel öfter nachgeben sollte: Zeit im Kino zu verbringen, möglichst viel Zeit. Und diese Zeit dazu nutzen, um ganz in andere Leben, andere Welten, ein anderes Zeitmaß vorzudringen und dort eine Weile zu bleiben.
 

The Woman Who Left (2016)

Wer im Februar 2017 auf der Berlinale „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“, den letzten Film des philippinischen Regisseurs Lav Diaz sehen wollte, musste sich acht Stunden (unterbrochen von einer nochmal einstündigen Pause) ins Kino begeben. Insofern ist das neue Werk des Filmemachers mit einer vergleichsweise schlanken Laufzeit von vier Stunden fast schon ein Kinderspiel für die Gesäßmuskulatur altgedienter Kritiker-Haudegen und Edelfedern.

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