Tangerine

Eine Filmkritik von Silvy Pommerenke

Der Zauber von Tanger

Die marokkanische Hafenstadt Tanger hat schon Literaten wie Paul und Jane Bowles vor einigen Jahrzehnten verzaubert. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts verführt die islamisch geprägte Stadt immer noch Künstler, so auch Pia und Tom, ein deutsches Musikerpaar, das auf den musikalischen Spuren der Rolling Stones wandelt und dem Geheimnis traditioneller arabischer Musik nachgehen will. Bis eines Tages Amira in ihr Leben tritt, von der sie beide gleichermaßen fasziniert sind.
Die Clique um Pia (Nora von Waldstätten) und Tom (Alexander Scheer) genießt unbeschwert die Sommertage in Tanger. Allerdings nicht ganz unbeschwert, denn zwischen Pia und Tom macht sich Beziehungsmüdigkeit breit, und Pia beschließt erst einmal eine Pause einzulegen. Nichts desto trotz ziehen sie gemeinsam durch die Cafés und Clubs der legendären Hafenstadt, immer auf der Suche nach musikalischen Abenteuern und Inspirationen. Während die Deutschen diesen Luxusproblemen ausgesetzt sind, haben die marokkanischen Frauen der Unterschicht ernsthafte Überlebensprobleme. Das Land ist in einem klassischen Geschlechterkonstrukt verhaftet und reproduziert ein traditionelles Rollenbild von Frauen, das sie zwangsläufig ins gesellschaftliche Abseits katapultiert, wenn sie versuchen aus dem vorgezeichneten Lebensweg auszubrechen. Ein Leben, unabhängig von einem Mann, können sie fast nur verwirklichen, wenn sie der Prostitution nachgehen. Die ist aber in islamisch geprägten Ländern verboten und in Tanger nur geduldet, so dass sie sich permanent in einer Illegalität befinden und immerzu mit einem Fuß im Knast sind. Die andere Alternative ist einen wohlhabenden europäischen Mann zu heiraten, der sie aus Afrika hinausbringt und zu wirtschaftlichem Wohlstand und einem sorgenfreien Leben führt. Das denkt sich auch Amira (Sabrina Ouazani), die Pia und Tom eines Nachts in einem Club kennenlernt. Die beiden Deutschen sind sofort von der Marokkanerin fasziniert, die auf der Tanzfläche ihr bewegendes Talent unter Beweis stellt. Denn eigentlich will Amira Tänzerin werden, aber der Traum, sich als Profitänzerin auszubilden, ist für sie unerreichbar. Aus Not heraus und um von ihrer Familie nicht zwangsverheiratet zu werden, zieht sie in eine Frauen-WG, die ihren Lebensunterhalt durch Prostitution verdient. Doch das Einkommen reicht kaum aus, um Miete und Essen zu bezahlen, zumal auch immer wieder die Freier das Geld schuldig bleiben, oder die Prostituierten verprügeln. Auch sie hängen dem Idealbild nach, Mr. Wright zu finden, der sie aus der marokkanischen Alltagshölle erlöst.

Diese ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme sind Tom und Pia fremd, so dass sie sich das Verhalten von Amira nicht richtig erklären können. Die fängt nämlich mit Tom eine Affaire an und stellt immer größere materielle Ansprüche an ihn. Da er nur ein erotisches Abenteuer und Ablenkung von Pia sucht, ist ihm das Verhalten Amiras unverständlich. Pia hingegen muss sich mit ihrer Eifersucht auseinandersetzen und erkennen, dass Freundschaft für Amira etwas anderes bedeutet, als für sie.

Die Regisseurin Irene von Alberti präsentiert mit Tangerine ihr Langfilm-Debut und trägt ihrer jahrelangen Leidenschaft für Marokko Rechnung. Sie wollte das Thema Prostitution in den Mittelpunkt des Filmes stellen, da es nach wie vor ein Tabuthema — vor allem in islamischen Staaten — und dennoch ein florierendes Geschäft ist. Stärker hätte von Alberti den Kontrast zwischen den Kulturen nicht herausarbeiten können, indem sie die zwar von Träumen erfüllte aber mittellose Amira und das deutsche Pärchen gegenübergestellt hat. Pia und Tom haben auch Träume, aber sie sind von wirtschaftlicher Not verschont und vor allem können sie ein selbstbestimmtes Leben führen. Dass Pia eine Beziehungspause zu Tom einlegt, ist Amira völlig schleierhaft. Solche Beziehungskonstrukte und Extravaganzen sind ihr fremd, denn für sie geht es nur darum, einen Mann – egal welchen – zu heiraten, der sie aus der Armutsfalle herausholt. Auf verschiedenen Ebenen erzählt Irene von Alberti von den ökonomischen Problemen marokkanischer Frauen der Unterschicht, deren Zukunftsvisionen unweigerlich mit der Heirat eines Mannes und der Auswanderung nach Europa zusammenhängen. Sie porträtiert aber auch eine faszinierende Stadt, die zwar in ihren Traditionen verhaftet ist, sich aber gleichzeitig aus diesen Traditionen generiert, und die in einer unaufhaltsamen Aufbruchsstimmung ist. Und nicht zuletzt zeichnet sie eine Dreiecksgeschichte nach, die angesiedelt ist zwischen zwei Kulturen und Welten, die fremder nicht sein könnten und dennoch Verbindungspunkte haben und sich gegenseitig befruchten.

Die Liebe, die Irene von Alberti zu Marokko, seiner Kultur und seinen Widersprüchen empfindet, wird mit jedem Bild und jedem Motiv auf der Leinwand für den Zuschauer erfahrbar. Tangerine ist ein sozialkritischer Film, der dennoch einen hohen Unterhaltungswert hat und ein zwiespältig-schillerndes Bild der Boomtown des Maghreb zeichnet.

Tangerine

Die marokkanische Hafenstadt Tanger hat schon Literaten wie Paul und Jane Bowles vor einigen Jahrzehnten verzaubert. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts verführt die islamisch geprägte Stadt immer noch Künstler, so auch Pia und Tom, ein deutsches Musikerpaar, das auf den musikalischen Spuren der Rolling Stones wandelt und dem Geheimnis traditioneller arabischer Musik nachgehen will. Bis eines Tages Amira in ihr Leben tritt, von der sie beide gleichermaßen fasziniert sind.
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