Stillleben

Eine Filmkritik von Monika Sandmann

Im Wartemodus

Laut Wikipedia bezeichnet „Stillleben“ in der Geschichte der europäischen Kunsttradition die Darstellung toter bzw. regloser Gegenstände. Der Titel steht sinnbildlich für die Familie in Sebastian Meises Debüt-Spielfilm. Innerlich tot, reglos verharrend, im Wartemodus auf ein dräuendes Ende in naher Zeit.
Schon die erste Einstellung gibt die Stimmungslage vor. Eine Garage, abseits vom Haus. Ein hermetisch abgeschlossener Kasten in ländlicher Umgebung. Die Kamera starrt gefühlte Ewigkeiten auf diesen Koloss, während gleichzeitig das Zwitschern der Vögel und die Land-Idylle ein stetig wachsendes Unbehagen bewirken. Hinter dem Garagentor muss das Grauen sein.

Doch wir sehen nur einen eher unauffälligen älteren Mann, der Holz sägt. Die Garage ist seine Werkstatt. Der Mann macht seine Arbeit, er scheint in sich zu ruhen, er wirkt konzentriert. Auch als später seine Tochter, Lydia, herein kommt, bleibt er unaufgeregt-freundlich. Das Grauen ist im Kopf des Mannes. Es nistet in seinen Gedanken, in seinen erotischen Phantasien mit der eigenen Tochter.

Sebastian Meise erzählt vom Kosmos Kleinfamilie. Mutter (Roswitha Soukup), Vater (grandios: Fritz Hörtenhuber), zwei erwachsene Kinder. Sowohl Lydia (Daniela Golpashin) als auch ihr Bruder Bernhard (Christoph Luser) wohnen längst nicht mehr zuhause. Das Elternhaus ist gepflegt und ordentlich. Dreck wird direkt unter den Teppich gekehrt und lauert dort seit Jahrzehnten, bis er sich nach und nach zu hochexplosivem Sprengstoff vermengt. Der große Knall liegt in der Luft, bleibt aber aus. Der Horror implodiert.

Meise verzichtet auf jegliche Knall-Effekte und bleibt seinen Figuren bis zum bitteren Ende treu. Respektvoll und wertfrei nähert er sich ihnen, belässt dabei jedem seinen eigenen Charakter, innerhalb dessen sich die Figur frei bewegen kann. Miteinander reden, geschweige Dinge offen auszusprechen, gehört allerdings nicht zum Repertoire. Es wird lediglich geahnt, gespürt, allenfalls heimlich ermittelt.

Als der Vater seinem Sohn Bernhard bei der Renovierung hilft, bleiben die Beiden stumm. Der Vater bricht vermeintlich nach Hause auf. Bernhard folgt ihm unbemerkt. Warum er das tut, bleibt erstmal ein Rätsel. Der Vater spricht eine Prostituierte (Anja Plaschg) an, gibt ihr einen Brief und geht mit ihr weg. Auch Bernhard wird Kunde der Prostituierten, doch er tut dies nur, um den Brief des Vaters zu stehlen.

Die familiäre Abwärtsspirale beginnt mit einem Gruppentherapietreffen für Alkoholiker. Der Vater hat jahrelang seine Schuldgefühle mit Alkohol betäubt. Die Familie soll ihn zu einem für ihn wichtigen Treffen der Gruppe begleiten. Der Vater ist jetzt trocken. Selbst als sein Leben in Trümmern liegt, lässt er den bestellten Schnaps stehen. Ein Mann, der einen starken Willen hat und der nur eine Lösung für seine kranken Phantasien kennt: Strafe.

Es sind die großen biblischen Themen, die hier verhandelt werden. Schuld und Sühne. Die Familie als Kern des Lebens, als Basis dessen, was aus einem Leben werden kann, eine Sackgasse, eine Umleitung oder eine große Autobahn. Wie in einer Familienaufstellung seziert Meise seine Protagonisten, webt ein Spinnennetz familiärer Verstrickungen, zeigt wie Kindererfahrungen Spuren im Leben hinterlassen, wie Dinge und Begebenheiten mit Bedeutungen angefüllt werden, z.B. die Distanz des Vaters lässt Lydia glauben, er mag sie nicht so wie ihren Bruder. Dabei hat er sie Beide nur schützen wollen. Vor seinen Neigungen. Bernhard wiederum fand als Kind Familienfotos in einer Kiste, die der Vater in der Werkstatt versteckt hatte. Die Fotos hat der Vater zurechtgeschnitten. Nur Lydia ist darauf, Bernhard weggeschnitten. Der Bruder ist eifersüchtig auf seine Schwester. In seinen Augen liebt der Vater nur sie. Als er die Bedeutung der Fotos zu verstehen glaubt – sein Vater könnte die Schwester missbraucht haben – fühlt er sich für sein Schweigen schuldig. Dabei weiß Lydia nicht einmal von den inzestuösen, pädophilen Gefühlen ihres Vaters, aber unterbewusst spürt sie alles. Sie ist aus der Familie geflohen, sie führt ihr Leben. Doch kaum daheim ist die alte Familienbeklemmung wieder präsent.

Die Wahrheit führt zum scheiternden Fluchtversuch. Allein hockt sie am Bahnhof, als Bernhard kommt. Die Geschwister scheinen eine Chance auf Erlösung zu haben, während die Mutter hilflos und paralysiert den Vater mit dem Gewehr losziehen lässt. Als die Nachbarin zufällig hereinschaut, hat sie den Dreck wieder unter den Teppich gekehrt.

Hoch anzurechnen ist Meises Klugheit, Pädophilie nicht in Gänze verhandeln zu wollen. Aus den Recherchen zu Stillleben entwickelte der Regisseur zusammen mit dem Autor Thomas Reider (Co-Autor von Stillleben) parallel den Dokumentarfilm Outing. Der Beginn ihrer Recherche war ein Therapieprojekt der Berliner Charité. Dort trafen sie pädophil veranlagte Menschen, die gegen ihre Obsessionen ankämpfen. Mit dem gleichen Zwiespalt, den vermutlich die beiden Filmemacher hegten, wird auch der Zuschauer konfrontiert. Der Begriff Pädophilie löst umgehend eine ganze Kette von monströsen Bildern aus. Doch der Film zeigt kein Monster, sondern einen erbärmlichen, scham- und schuldbehafteten Mann, der verdruckst und schweigend seine krankhaften Neigungen in andere Bahnen zu lenken sucht, die niemanden verletzen.

Stillleben“ ist ein kühles und karg inszeniertes Kammerstück, das mehr andeutet, als zeigt. Jedes Bild, jede Einstellung ist durchkomponiert. Zusammen mit der fabelhaften Leistung des Darstellerteams und einer wunderbaren Neuinterpretation des Songs „Voyage Voyage“ von Soap&Skin (Anja Plaschg, die das Lied singt, spielt im Film die Prostituierte) gelingt Meise ein überzeugendes, verstörendes Debüt, das noch lange nachhallt und zurecht bereits mit vielen Preisen bedacht wurde.

Stillleben

Laut Wikipedia bezeichnet „Stillleben“ in der Geschichte der europäischen Kunsttradition die Darstellung toter bzw. regloser Gegenstände. Der Titel steht sinnbildlich für die Familie in Sebastian Meises Debüt-Spielfilm. Innerlich tot, reglos verharrend, im Wartemodus auf ein dräuendes Ende in naher Zeit.
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