Schönefeld Boulevard

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Eindrucksvoll in seiner Gewöhnlichkeit

Ganz wichtig ist, wie man einen Film anfängt. Sylke Enders entscheidet sich in Schönefeld Boulevard für lyrische Bilder vom Flughafenzaun, von auffliegenden Vögeln, einem landenden Flugzeug und von in Zeitlupe durch die Luft geworfenen Barbiepuppen.
Und sie entscheidet sich für einen Voice-Over-Kommentar — und das jedenfalls ist ein Fehler. Im Duktus des Deutschaufsatzes einer Sechstklässlerin stellt Cindy sich und ihre Welt vor, ihre vermeintlichen oder echten Unzulänglichkeiten, ihr Verhältnis zu Eltern, Schule, Freundinnen, ihr Kontakt mit dem einigermaßen durchgeknallten Nachbarsjungen Danny. Nun ist Cindy leider keine Sechstklässlerin, sondern Abiturientin; und all das, was sie so erzählt, ist das, was wir in den nächsten Minuten im Film auch sehen. Und so wirkt der Beginn des Films plump, tapsig, banal. Schade.

Denn nun ist die Aufgabe von Julia Jendroßek, die die Cindy spielt, umso schwerer: Sie muss den Zuschauer für sich einnehmen. Und wunderbarerweise gelingt das; weil sie sehr wahrhaftig spielt; und vor allem, weil sich die Befürchtung nicht bewahrheitet, dass noch weitere Schilderungen aus dem Voice Over kommen… Enders konzentriert sich auf das, was sie kann: Charaktere herausschälen; aus Schauspielern das Beste herausholen; Unspektakuläres und Stillstand als Geschichte erzählen.

Wir sind in Schönefeld. Schönefeld, das ist schon mal ein Witz: Schön ist hier wenig, und Feld bedeutet Flughafen. Flughafen bedeutet Arbeitsplätze, Hoffnung auf die Zukunft — und natürlich, als große, böse, über Jahre hingezogene Ironie, Stillstand. Nichts geht voran am neuen Hauptstadtflughafen, nichts geht voran in Schönefeld, und mit Cindy schon gar nicht. Die ist dick, hat ständig den Mund offen wie Ottfried Fischer, als würde sie über die Welt staunen und ob der Welt schnaufen. Sie will Hotelfachfrau werden, Problem eins: es gibt kein Hotel, solange kein Flugbetrieb herrscht; Problem zwei: Es gibt kaum Uniformen für Rezeptionistinnen in ihrer Größe. Nach Baden-Baden will sie aber auch nicht, auch wenn sie von dort ein Angebot hat.

Wie soll es auch vorwärtsgehen mit ihr, wenn nicht mal ihre Eltern an ihre Zukunft glauben? Für eine Stewardess ist sie halt zu breit, sagt der Vater, kommt nicht durch die Gänge. Und ob sie das Abi schafft, sei ohnehin zweifelhaft. Nachbar Danny hat seine eigene Strategie fürs Leben: Er hängt den Zyniker raus, was aber vor allem bedeutet, über alles zu spotten, insbesondere über Cindy. Was diese duldet, weil sie sonst ganz alleine wäre. Und weil sie es von Kind auf gewohnt ist. Und vielleicht auch, weil sie Danny ein bisschen mag, auch wenn die obligatorische Coolness jedes Gefühl verbietet.
Danny weiß, was er vorhat: Bundeswehr. Afghanistan. Weg von der verhassten Stiefmutter. Aber auch er ist aus Schönefeld, und das heißt: Man kommt nicht weg, man kommt nirgends an, man kehrt immer wieder zurück. Mit Windpocken vom Hindukusch. Und vielleicht, weil die Bundeswehr ihn gar nicht mehr will.
Eine Zufallsbegegnung eröffnet immerhin Cindy ganz neue Perspektiven: Ein finnischer Ingenieur wird Objekt ihrer kleinmädchenhaften Schwärmereien (nun tatsächlich wie eine Sechstklässlerin), linkisch mit gebrochenem Englisch plappert sie ihn zu, bis er sich nicht mehr erwehren kann. Wie alt bist du?, fragt er — 19, lügt sie. Und sie fallen zusammen ins Bett.

Ein Hauch von Freiheit und Abenteuer, die große weite Welt — der Flughafen, der keiner ist, hat doch etwas zu bieten, große Probleme erfordern Helfer aus aller Welt. Und Cindy, sonst immer geduckt und schüchtern, ist fasziniert…
Sylke Enders erzählt eine Geschichte, die eigentlich keine ist, eine Handlung, die immer wieder an Grenzen stößt. Nein: Cindy rutscht nicht in die Prostitution, weit entfernt; nein: es gibt keinen großen Konflikt mit ihren angeblichen Freundinnen, die sich auf Facebook über sie lustig machen; nein, es gibt bis zum Ende kein großes Drama um Danny, der nur höhnen, aber nicht lieben kann. Es geht halt alles immer irgendwie weiter, oder es endet, wenn es gerade Schwung aufnimmt — wie Cindys Bekanntschaft des jungen Frankfurters mit koreanischen Wurzeln, der die Software der Fahrstuhlsteuerungen zu überprüfen hat.

Schönefeld Boulevard ist Coming-of-Age-Kino, und als solches nicht besonders originell. Doch die Figuren, die sich hier ihrem Leben ergeben, das gerade erst anfängt; denen jeder kleine Ausbruchversuch zur persönlichen Katastrophe wird; die nie fertiggestellt werden, wie der metaphorische Flughafen, der niemals sein wird: Sie sind eben doch reizvoll, anregend, in ihrer Gewöhnlichkeit eindrucksvoll — so dass das Wiederaufnehmen des albernen Voice-Over-Kommentars am Ende kaum ins Gewicht fällt.

Schönefeld Boulevard

Ganz wichtig ist, wie man einen Film anfängt. Sylke Enders entscheidet sich in „Schönefeld Boulevard“ für lyrische Bilder vom Flughafenzaun, von auffliegenden Vögeln, einem landenden Flugzeug und von in Zeitlupe durch die Luft geworfenen Barbiepuppen.
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