Reality

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

"Never give up!"

Wenn sich ein Film den Titel Reality gibt, dann ist schnell klar, dass diese Wirklichkeit höchstwahrscheinlich ein fragiles Gebilde ist, ein Konstrukt, in dem sich Traumwelt und die so genannte Wahrheit überlappen und sich gegenseitig beeinflussen — zumindest kommt es den Handelnden so vor. Welche Auswirkungen das haben kann, davon hat Darren Aronofsky in seinem Film Requiem for a Dream bereits schon einmal in bravouröser Weise erzählt. Und nimmt man Pi und Black Swan hinzu (sowie unter Umständen noch The Wrestler), so behandeln auch diese die Zerbrechlichkeit unserer Welt.
Nun ist Reality aber kein Aronofsky-Film, sondern das neueste Werk von Matteo Garrone, der vor einiger Zeit mit der Buchverfilmung Gomorrha (nach dem Sachbuch von Roberto Saviano) von sich reden machte. Weil Garrone auch dieses Werk in Neapel, seiner Heimatstadt angesiedelt hat, hat es abermals diese ganz besondere Mischung aus überbordender Vitalität, Tristesse gekoppelt mit Garrones Blick auf die sozialen Verhältnisse, die bereits seinen Vorgänger auszeichneten. Und nur scheinbar kommt Reality leichter daher, ist humorvoller, in Wahrheit aber viel bitterer als Gomorrha.

Luciano (Aniello Arena) besitzt einen Fischstand mitten in Neapel, ist ein geborener Spaßvogel, der gerne mit seinen Kunden und seiner vielköpfigen Verwandtschaft seine albernen Späße treibt, ein einfacher Mann, den scheinbar nichts aus der Ruhe bringen kann. Weil sein Einkommen bescheiden ist, bessert er gemeinsam mit seiner Frau Maria (Loredana Simioni) die Haushaltskasse mit dem Verkauf von Küchenmaschinen auf, deren Herkunft man besser nicht allzu genau nachverfolgen sollte. Dennoch, er ist ein braver Mann. Wie viele Italiener aber träumt er auch einen Traum — endlich einmal Teilnehmer bei Il Grande Fratello zu werden, dem italienischen Gegenstück zur deutschen Fernsehshow Big Brother, die sich in seiner Heimat einer ungleich größeren Beliebtheit erfreut als bei uns. Beflügelt wird dieser Wunsch von Enzo (Raffaele Ferrante), der bei der Hochzeit eines Verwandten zu Beginn des Films als Stargast fungiert. Er hat es mit seinem 114-tägigen Aufenthalt im Container zu Geld und Ansehen gebracht. Und ist nicht Luciano der geborene Entertainer, der Spaßmacher, der mit seinem Charme alle um den Finger wickelt? Außerdem solle man, wie Enzo es stets wie ein Mantra wiederholt, an seine Träume glauben: „Never give up!“

Zunächst sind es nur seine Kinder, die den Fischhändler bedrängen, dann die gesamte Sippschaft, bis Luciano schließlich nachgibt und zum Casting geht. Alles läuft gut, doch der Anruf, auf den alle so sehnlich warten, bleibt aus. Und plötzlich fängt dieser kleine Mann an, durchzudrehen, sieht überall Sendboten des allmächtigen Senders, die ihn immer und immer wieder prüfen, weil er einfach in diese Show gehört…

Garrone beginnt seine Abrechnung mit dem Italien Silvio Berlusconis mit einem grandiosen Flug über Neapel, fliegt über die Vororte, zeigt den Verkehr, bis sich eine kleine Irritation in diesen establishing shot mischt: Eine goldene Kutsche, die direkt aus dem Barock zu kommen scheint, mit livriertem Kutscher und ebensolchem Diener, die das Hochzeitspaar zu den Feierlichkeiten bringt, während denen es zu der schicksalhaften Begegnung Lucianos mit Enzo kommt. Immer wieder flicht Garrone solche Surrealismen in seine Geschichte ein, die in ihren heiteren Szene beinahe wirkt, als sei sie mit ihren Ansammlung an schrägen Typen und Charakterköpfen ein direkter Nachkömmling der Commedia all’neapoletana. Dass es bei allem Mut zur Hässlichkeit dennoch nicht so kräftig „seidlt“ wie bei Paradies: Liebe, liegt an der größeren Dynamik Garrones, an der höheren Schnittfrequenz, am gnadenlosen Überspielen, das freilich niemals als solches ausgestellt wird, sondern stets als Teil der „Mentalität“ der Neapolitaner daherkommt. Und nicht zuletzt auch an der großen Sympathie, an der unbedingten Solidarität Garonnes mit den kleinen Leuten.

Was Garrone niemals deutlich ausspricht oder vorführt, was aber trotzdem stets mitschwingt, ist die Hypothese, dass Lug und Trug, schöner Schein und Inszenierung seit jeher mit dazugehören beim Interagieren und dass vielleicht gerade deshalb Italien so leicht verführbar war von einem begnadeten Selbstdarsteller wie Silvio Berlusconi.

Reality

Wenn sich ein Film den Titel „Reality“ gibt, dann ist schnell klar, dass diese Wirklichkeit höchstwahrscheinlich ein fragiles Gebilde ist, ein Konstrukt, in dem sich Traumwelt und die so genannte Wahrheit überlappen und sich gegenseitig beeinflussen — zumindest kommt es den Handelnden so vor.
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