Portraits deutscher Alkoholiker

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Hinter der Fassade des Alltags: Die gutbürgerlichen Alkoholiker

„Wenn ich keine Probleme hab‘, bin ich kein Alkoholiker. Und wenn ich kein Alkoholiker bin, kann ich so viel saufen, wie ich will.“ Der IT-Spezialist und Unternehmer erzählt launig über seinen Alkoholkonsum, der schleichend dann doch zum ganz großen Problem für ihn geworden ist. Der Rechtsanwalt hat schon im Studium mit dem Trinken angefangen, um dem Prüfungsdruck besser standhalten zu können. Die Narkose-Assistentin trinkt, weil es ihr alles so etwas leichter wird. Immer schwerer hingegen fällt es im Laufe der Jahre allen, ihre heimliche Sucht in die „Normalität“ ihres bürgerlichen Alltags zu integrieren. Denn hier sprechen keine aus der Gesellschaft gefallenen Existenzen, sondern – oberflächlich gesehen —  „funktionierende“ Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft.
Die sechs Menschen, die in Portraits deutscher Alkoholiker von ihrer Alkoholsucht erzählen, bleiben anonym. Sie sind nur auf der Tonebene präsent, was nicht etwa daran liegt, dass sich die Interviewten scheuten, ihre Geschichte auch vor laufender Kamera zu erzählen. Die Regisseurin hat sie gar nicht erst darum gebeten. Denn Carolin Schmitz geht es in ihrem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm nicht darum, der Alkoholsucht als persönlichem Schicksal ein individuelles Gesicht zu geben oder zu moralisieren. Sie interessiert sich vielmehr dafür, unter welcher vermeintlich heilen gesellschaftlichen Oberfläche das heimliche Trinken — oft mit dem Ziel, besser innerhalb dieser Gesellschaft funktionieren zu können – stattfindet. Es gelingt ihr mit beachtenswerter formaler filmischer Konsequenz, das Thema aus der Tabu-Ecke zu holen und mitten in der Gesellschaft zu verorten.

Zehn Interviews hat sie für ihren Film geführt, wobei sie die Menschen nach telefonischen Vorgesprächen jeweils nur einmal mit einem Tonbandgerät besucht hat und sich ihre Geschichte hat erzählen lassen. Aus sechs dieser Interviews sind Auszüge im Film eingearbeitet. Die Leute erzählen von sich aus, was sie von sich selbst preisgeben wollen. Und das ist oft erstaunlich viel. Offenherzig berichten die Betroffenen von ihren Überlebenslisten und Verbergungsstrategien, welche in ihrer Kreativität und Absurdität von einem ungeheuren Druck zeugen, das intakte Bild von sich selbst als funktionierendem Teil der Gesellschaft wahren zu wollen. Das geht auch oft erstaunlich lange „gut“, die Umwelt bekommt nichts mit – oder der Alkoholiker meint dies zumeist, weil er nie direkt auf sein Problem angesprochen wird. So dauert es oft sehr lange, bis sich bei den Betroffenen selbst überhaupt ein Problembewusstsein entwickelt und das mühsam aufrechterhaltene Selbstbild ins Wanken gerät. Die sechs Protagonisten haben diesen Punkt alle längst erreicht. In ihren Erzählungen, die untereinander verwoben, aber in sich jeweils chronologisch montiert sind, klingen sie teilweise fast distanziert, so als ob sie selbst nicht mehr ganz glauben könnten, zu welchen Anstrengungen und Selbstbetrug sie fähig waren, um den Schein der Normalität über Jahre hinweg zu wahren.

Die Interviews bilden den Ausgangspunkt, die Grundlage. Die dazu kommende visuelle Ebene besteht aus Bildern von privaten und öffentlichen Räumen. Durch die Kombination mit den Erzählungen entsteht eine Verstärkung und auch Reibung, die einen weiten Raum für Assoziationen öffnet. Dicht und beklemmend sind beispielsweise die Momente, in denen die Kamera langsamen die Räume eines Hauses erkundet, während aus dem Off die Stimme der Hausfrau detailliert von ihrem ganz „normalen“, suchtbestimmten Alltag erzählt.

In vielen statischen Bildern und langsamen Schwenks über öffentliche Räume, Arbeitsplätze, Dorfstraßen, Bahnhöfe, Landschaften, Fabrikgebäude und Flughäfen gelingt es Carolin Schmitz, das Augenmerk auf einen blinden Fleck unter der vertrauten Oberfläche zu lenken. Denn durch die Tonebene bekommt die heile Oberfläche der allzu bekannten alltäglichen Welt plötzlich Risse in der Wahrnehmung des Zuschauers. Wobei die Bilder eines Flughafenrollfeldes oder eines Operationssaals in diesem Kontext natürlich ungleich stärker funktionieren, als ein endloser Schwenk über eine Waldlandschaft. Trotzdem schaffen auch solche scheinbar belanglosen Bilder den Raum für Assoziationen und Ankopplungen an eigene Erfahrungswelten, denn die Erzählungen der Protagonisten sind eben keine isolierten Einzelschicksale, sie sind verallgemeinerbar, sie sind ein gesellschaftliches Phänomen.

Portraits deutscher Alkoholiker

„Wenn ich keine Probleme hab‘, bin ich kein Alkoholiker. Und wenn ich kein Alkoholiker bin, kann ich so viel saufen, wie ich will.“ Der IT-Spezialist und Unternehmer erzählt launig über seinen Alkoholkonsum, der schleichend dann doch zum ganz großen Problem für ihn geworden ist.
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Meinungen

Karsten AA · 31.05.2012

Von Karsten Den Film Gesehen im Oben Kino Cottbus, dazu eigene Erfahrungen mit Alkohol.Ich habe mein Spiegelbild gesehen.Und bin zufrieden mit 17. Jahre Trockenheit.
Über die Alkoholkrankheit mus genau so Gesprochen werden ,und das nicht im Hinterzimmer,sondern Öffentlich.Diese Krankheit Ist schleichend und Tödlich,man merkt es erst wenn es zu Spät ist.

Jan · 08.06.2011

Das ist der Film, den ich auf der Berlinale gesehen habe und der von allen, die ich da gesehen habe am meisten in Erinnerung geblieben ist. Die Bilder und Geschichten verbinden sich auf eine magische Art und gelangen irgendwie in ein anderen Gehirnteil als sonstige Filmerlebnisse. Wirklich sehr zu empfehlen.

Karsten · 28.08.2010

Das Problem sehe ich an der Sichtweise, wer als alkoholkrank angesehen wird.
Gut situierte Trinker werden nicht als Alkoholiker betrachtet, obwohl es davon vielleicht sogar mehr gibt, als die Menschen, die dem bürgerlichen Klischee entsprechen.
Sogenannte Elitealkoholiker haben aber meist nichts begriffen.