Phoenix (2014)

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Auf der Suche nach dem verlorenen Ich

Die ersten zehn Minuten von Phoenix konfrontieren einen direkt mit einer Frau, deren Gesicht nicht erkennbar ist. Ihr Kopf ist aufgrund einer schweren Kriegsverletzung vollständig bandagiert. Dadurch bleibt sie anonym, ihr Gesicht bekommen wir weder in einer Straßenkontrolle der Alliierten zu sehen, noch beim Chirurgen, zu dem sie ihre Freundin Lene Winter (Nina Kunzendorf) bringt. Bezüglich einer Operation der Verletzungen und Restaurierung ihres Gesichts meint der Arzt, Zarah Leander sei bei den Leuten gerade sehr beliebt. Draußen liefen ja gerade jede Menge Herrschaften herum, die gerne ein neues Gesicht hätten, so der Arzt weiter.

Diese Frau namens Nelly Lenz (Nina Hoss) hat kein Gesicht mehr, zumindest nicht ihr altes, gewohntes. Deswegen ist ihr die Möglichkeit genommen, sich mit sich selbst zu identifizieren, so sieht sie sich mit jemandem konfrontiert, den sie nicht mehr kennt beziehungsweise erkennt. Ihr größter Wunsch ist es, so auszusehen, wie vor dem Krieg. Diese Haltung Nellys drückt den thematischen Kern aus, den der Film umspielt: die Verweigerung eines Neuanfangs, das unbedingte Anknüpfen wollen am Alten, am Zeitpunkt vor dem Riss.

Das zerstörte Selbst sucht sich in den Wehen der Erinnerung an die eigene Identität. Für Nelly geht es um das Weiterleben, um die Möglichkeit eines weiteren Lebens nach dem Konzentrationslager. Sie will die werden, die sie einmal war, sie möchte wieder von denen geliebt werden, die sie einmal liebten. Im Film wird sie erst dann vom Objekt zum Charakter (wenn auch einem gespenstischen), als sie mit Lene Kurt Weills „Speak Low“ beim Abendessen hört – „Speak low, darling, speak low / Love is a spark, lost in the dark too soon, too soon“. Da passiert etwas mit ihr, sie wird von diesem Lied ergriffen, von einem Moment ergriffen, der verloren ist, der in der Erinnerung an die vergangene Beziehung zum Pianisten Johnny (Ronald Zehrfeld) lebendig bleibt. Mit diesem Lied beginnt Nelly in Phoenix langsam lebendig zu werden, mit diesem Lied erst entsteht etwas in ihr, dem sie von da an hartnäckig folgt. Von der Liebe angetrieben betreibt sie Arbeit an der eigenen Biographie: ist es möglich, über den tiefen, nihilistischen Riss, den die Nationalsozialisten in Deutschland vollzogen haben, zurückzuspringen und die Gefühle, die Liebe und das Leben, die eigene Identität zu rekonstruieren?

Die streng komponierten Film noir-Bilder konterkariert Nelly durch ihr ungelenkes Umherstaksen inmitten der spärlich beleuchteten Trümmerlandschaften und gespenstischen Hinterhöfe des Nachkriegsberlins. „Mich gibt es nicht mehr“, sagt sie einmal. Das will sie jedoch nicht wahrhaben, sucht im Halbdunkel nach ihrer alten Liebe, nach der alten Zeit. Wie ein Nichts bewegt sie sich durch die Straßen, durch und durch fahrig und haltlos. Ihre Haare sind grau, später wird sie sie auf Anweisung Johnnys, der sie nach der Gesichtsoperation nicht als seine alte Frau wiedererkennt, tönen und alte Schuhe und Kleider anziehen. Die Kombination aus Kleidung und Bewegung ermöglicht ihr den Beginn eines neuen Selbstvertrauens, ihr Gang wird zudem aufrechter. Mit ihren Bewegungen und ihrer Körperlichkeit versucht sie an die verdrängten Bereiche in Johnnys Erinnerung heranzukommen. Wenn sie sich auf seine Anweisung schminkt oder ihre alte Handschrift einstudieren muss (die sie natürlich beherrscht), sind wir Zeuge eines wunderbar verqueren Liebesspiels, eines Spannungsverhältnisses von äußerem und innerem Ich, Fremdbestimmtheit und Selbstbehauptung. Sie versucht, die Liebe, die er verdrängt hat, wieder gegenwärtig zu machen. Er versucht, die Vergegenwärtigung der Liebe zu verhindern, und sie versucht, sie wiederherzustellen. Dann kehrt sich das alles in manchen Momenten um, wird sie ja nicht nur von ihm geführt und angezogen, sondern fängt an, selber die Fäden in die Hand zu bekommen. Für Johnny geht es darum, eine Perspektive zu suchen, eine Berechtigung zum Weiterleben zu bekommen, wegzugehen, um sich seinen Gefühlen nicht stellen zu müssen, seinen Erfahrungen, Erlebnissen und den Entscheidungen, die er in Bezug auf Nelly getroffen hat. Alles das wird zusätzlich intensiviert durch die Souterrainwohnung Johnnys, die durch die Enge kammerspielartige Sequenzen ermöglicht, die jedes Detail des reduzierten Interieurs noch bedeutsamer erscheinen lassen.

Mit den Mitteln des Melodrams und des Film noir wird in Phoenix der Holocaust von Petzold in die unmittelbare Nachkriegszeit gehoben, er ist Hintergrund für eine kleine, private Geschichte einer auf ihre Weise widerständigen Frau. Der Film zeigt, wie sich Erfahrungen in Handlungen und Körper zweier Menschen einschreiben, Erfahrungen von vor, im und nach dem Krieg. Der politische Gehalt der Geschichte steht nicht im Vordergrund, sondern wird indirekt auf einer zwischenmenschlichen Ebene verhandelt. Am Ende gibt es weder für Nelly noch für Johnny eine Möglichkeit, der Vergangenheit zu entfliehen, ohne von ihr gezeichnet zu sein. Keiner ist vor seiner Vergangenheit, Manipulation und Betrug sicher. Keiner kann zweimal in den selben Fluss steigen. Häuser und Städte können wieder aufgebaut werden. Gesichter auch. Das Leben oder die Liebe existieren in Phoenix nur in der Erinnerung. Keinen Platz finden dazu eventuell nahe liegende psychologische Erklärungen oder Betroffenheit. Nelly Lenz wird zwar im Verlauf des Films immer mehr eine Figur mit einer Psyche, ein Ausleben dieser erlaubt ihr der Film allerdings nicht. Immerhin: als aktiv handelnde Person verlässt sie die letzte Szene des Films, unbeirrt auf das nicht Mögliche wartend.
 

Phoenix (2014)

Die ersten zehn Minuten von „Phoenix“ konfrontieren einen direkt mit einer Frau, deren Gesicht nicht erkennbar ist. Ihr Kopf ist aufgrund einer schweren Kriegsverletzung vollständig bandagiert. Dadurch bleibt sie anonym, ihr Gesicht bekommen wir weder in einer Straßenkontrolle der Alliierten zu sehen, noch beim Chirurgen, zu dem sie ihre Freundin Lene Winter (Nina Kunzendorf) bringt.

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Meinungen

Friendly · 13.10.2014

Mit den Inhaltsangaben, die andere Kommentatoren so schreiben, hat dieser Film geradezu gar nichts zu tun. Ich glaube, die waren in einem anderen Film - vielleicht in "Mission impossible"? PHOENIX ist zwar ein Kunstfilm im Sinne, dass nicht jede Gefühlregung und Reaktion der handelnden Personen hunderprozentig zu verstehen ist (Wer hat je Romeo und Julia verstanden?) aber es ist auf keinem Fall die Nazi-Exploitation, die manche Kritiker darin erkennen wollen. Ich finde den Film unbedingt sehenswert. Wenn auch nicht für Jeden und nicht für jede Stimmung. Das Nachkriegsdeutschland ist schon sehr häßlich geschildert. Mann weiss nicht, vor wem man mehr schaudern soll: vor den gewaltttätigen Luden am Ami-Club? Vor den Soldaten am Check-Point? Vor der diktatorischen Haushaltshilfe?

Und wenn sie nicht böse sind, dann sind sie traurig, weil sie, wie Nelly, zu viel verloren haben, um einfach weiter zu machen. "Horst ist tot. Mein Sohn ist tot" sagt Nellys Cousin zur Begrüßung auf dem Bahnsteig. Wie traurig ist das denn wohl? Da wundert es nicht, dass Lena sich schließlich erschießt. Es war zu viel Leid.