Pandora's Box

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wenn Eltern altern...

Vor genau zehn Jahren hatte die Regisseurin und Drehbuchautorin Yesim Ustaoglu mit ihrem vielbeachteten zweiten Film Reise zur Sonne / Guannese Yolculuk europaweit auf etlichen Festivals für Furore gesorgt. 2004 folgte Waiting for the Clouds / Bulutlari Beklerken, in dem sich Ustaoglu mit dem Schicksal der während des ersten Weltkrieges vertriebenen türkischen Griechen auseinandersetzte. Mit Pandora’s Box ist der Regisseurin abermals ein überaus bemerkenswerter Film gelungen, der auf dem Filmfestival von San Sebastian mit je einer „Goldenen Muschel“ als Bester Film und für die Beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. In sehr ruhigen, beinahe poetischen und sorgfältig arrangierten Bildern erzählt die Filmemacherin von der Entfremdung in einer ganz normalen türkischen Familie der Mittelschicht, deren Lebenslügen und faule Kompromisse durch die Erkrankung der Mutter schonungslos offengelegt werden. Wären die Sprache und die Landschaften nicht, könnte die Geschichte von Pandora’s Box nahezu überall spielen – sie ist universell und wegen der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft durchaus auf der Höhe der Zeit.
Die alte Nusret (dargestellt von der 90-jährigen Theaterschauspielerin Tsilla Chelton, die hier erst in ihrer zweiten Film-Hauptrolle zu sehen ist), die irgendwo auf dem Land lebt, verschwindet urplötzlich. Eilig werden ihre drei Kinder, die beiden angepassten Schwestern Nesrin (Derya Alabora) und Güzin (Övül Avkiran) und deren nonkonformistischer, ziemlich verkiffter Bruder Mehmet (Osman Sonant) herbeigerufen; nach langer Suchaktion wird die alte Dame schließlich in den Bergen aufgefunden. Sie ist wohlauf, doch sie leidet unter Morbus Alzheimer und kann nicht mehr länger sich selbst überlassen werden. Also wird Nusret kurzerhand nach Istanbul verfrachtet. Doch auch hier fällt es den Kindern schwer, sich um ihre Mutter zu kümmern, viel zu sehr sind sie mit sich selbst und ihren diversen Problemen beschäftigt. Und mehr noch: Durch die Sorge um die Mutter treten die Zwistigkeiten der Geschwister untereinander immer deutlicher zutage, erscheinen die Irrwege, die sie eingeschlagen haben, immens vergrößert – es ist, als habe die neue Lebenssituation tatsächlich eine Büchse der Pandora geöffnet. Nusret reagiert auf ihre Weise auf die neue Situation, sie schreit herum oder schlägt auch mal zu und büxt immer wieder aus, so dass die Unterbringung in einem Pflegeheim zum letzten Ausweg wird. Ausgerechnet ihrem rebellischen Enkel Murat (Onur Ünsal) gelingt es schließlich, sich auf seine ganz eigene Weise der renitenten Großmutter zu nähern. Kurzerhand entführt er die alte Frau und unternimmt mit ihr einen Ausflug, der den beiden Verstoßenen sichtlich bekommt. Und dann konfrontiert Nusret ihren Enkel mit ihrem größten und vielleicht letzten Wunsch – sie will heim in ihr Dorf, sie will nachhause zurück…

Wie im griechischen Mythos der Pandora spielt auch in Yesim Ustaoglus Film eine „Plage“ eine wichtige Rolle, doch hier verhält es sich ein wenig anders als in der Titel gebenden Sage: Denn hier ist die Alzheimer-Erkrankung Nusrets bereits manifest und fungiert selbst als Katalysator, statt ihre Ursache woanders zu haben – es ist beinahe schon die Vertauschung von Ursache und (Aus)Wirkung. Was zwangsläufig die Krankheit als auslösendes Moment in den Hintergrund treten lässt. So werden die Symptome von Morbus Alzheimer zwar durchaus treffend beschrieben, der Fokus richtet sich aber eher auf allgemeinere Themen wie Entfremdung, erodierende Familienstrukturen und die (vornehmlich falschen) Entscheidungen im Laufe eines Lebens. Vor allem dank der sehenswerten Leistung von Tsilla Chelton ist Pandora’s Box aller Tristesse zum Trotz ein Film geworden, der berührt, zu Herzen geht und neben aller Schwere auch zarten Optimismus verbreitet. Kein spektakuläres Kino, aber ein leiser und eindringlicher Film voller Weisheit und Sympathie für die Schrullen seiner Figuren.

Pandora's Box

Vor genau zehn Jahren hatte die Regisseurin und Drehbuchautorin Yesim Ustaoglu mit ihrem vielbeachteten zweiten Film Reise zur „Sonne“ / „Guannese Yolculuk“ europaweit auf etlichen Festivals für Furore gesorgt. 2004 folgte „Waiting for the Clouds“ / „Bulutlari Beklerken“, in dem sich Ustaoglu mit dem Schicksal der während des ersten Weltkrieges vertriebenen türkischen Griechen auseinandersetzte.
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