Nymphomaniac 2

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

One hundred shades of grey

Genau sechs Wochen liegen zwischen dem Kinostart von Nymphomaniac 1 und dem zweiten Teil des Films, der ursprünglich als noch viel längeres Gesamtwerk geplant war. Denn eigentlich sollte es diese Zweiteilung des Films ebenso nicht geben wie die unterschiedlichen Fassungen, die vielmehr den Vorgaben oder Annahmen über die Marktkonformität geschuldet sind. Während der Director’s Cut von Volume 1 bei der Berlinale zu sehen war und wohl erst beim DVD-Release wieder zu sehen sein wird, hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Langfassung von Volume 2 wohl in Cannes zur Welturaufführung kommen wird – ausgerechnet auf jenem Festival also, das Lars von Trier 2011 zur „persona non grata“ erklärte.
Im zweiten Teil der Geschichte von Joe sind es 3 Kapitel (Die Ostkirche und die Westkirche (Die stille Ente), Der Spiegel und Die Pistole), in denen Lars von Trier den Leidensweg seiner Protagonistin zu Ende und in die Gegenwart führt, bis hin in jenen Hinterhof, in dem Zeligman zu Beginn des Filmes die geschundene Frau auffand. Doch selbst als die Geschichte ihrer Sexbesessenheit eigentlich von Joe zu Ende erzählt ist, geht sie weiter – bis zu einem Ende, mit dem wohl niemand gerechnet haben dürfte.

In der zunehmenden Düsternis des zweiten Teils löst sich die strenge Kapitelstruktur mehr und mehr auf, werden die Übergänge zwischen erzählter Vergangenheit und Gegenwart, aus der heraus erzählt wird, nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich und stilistisch zunehmend durchlässiger, bis sie sich am Ende auflösen und in einer grausamen Schlusspointe ihr Ende finden.

Wo im ersten Teil von Nymphomaniac noch eine von teilweise grimmigem Humor beherrschte Leichtigkeit vorzufinden war, deutete bereits dessen Ende an, wohin Joes Reise durch den Kontinent ihrer Sexualität führt. Nach dem Verlust ihrer Orgasmusfähigkeit und dem Versuch, sich in einer bürgerlichen Beziehung mit Jerome einzurichten, richtet sich all ihr Streben darauf, die Fähigkeit wiederzuerlangen, die schon ihr früheres Leben prägte. Und je mehr sie es versucht und immer wieder daran scheitert, umso verzweifelter und gehetzter wird sie, je mehr sucht sie das Fremde und Dunkle, weil das Vertraute und Lichte nicht mehr zum Ziel führt. War sie früher die Beherrscherin ihrer Lust und der männlichen Sexualobjekte, verliert sie nun gleich in mehrfacher Weise die Kontrolle, muss diese sogar (wie es ihr scheint) verlieren, um etwas wiederzufinden, was doch unwiederbringlich vergangen ist.


Es ist vor allem der Zweiteilung des Ausgangswerkes Nymphomaniac in seiner Gesamtheit geschuldet, dass die beiden Teile so unterschiedlich wirken —  wie ein Gegensatzpaar mit unzähligen Facetten: Helligkeit und Dunkelheit, Humor und tiefste Verzweiflung, Eros und Thanatos, Pornographie und philosophischer Diskurs, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Lust und Schmerz, Begehren und Intellekt, Sündhaftigkeit und Reinheit, Vergeistigung und Begehren, Kontrolle und Chaos sind nur einige der Pole, die das Koordinatensystem dieses annähernd enzyklopädischen Werkes bestimmen.

Fügt man aber die beiden Teile des Filmes zusammen und legt im Geiste die verschiedenen Schichten und Geschichten übereinander, ergibt sich ein anderes Bild – eines, in dem sich die scheinbaren Gegensätze zu einem komplexeren und ambivalenteren Ganzen zusammenfügen. Statt Schwarz und Weiß sehen wir in dem filmischen Gesamtkunstwerk Nymphomaniac mindestens „one hundred shades of grey“, eine rasende, zugleich streng disziplinierte und außer Rand und Band geratene Metaphern- und Assoziationsmaschine, die ohne Unterlass Gedanken, Ideen, Haltung, Philosopheme, Absurditäten, Widersprüchlichkeiten, Sarkasmen und zärtlichste Beobachtungen herausschleudert. Nymphomaniac – man kann es nicht anders fassen, ist ein Film, der wie ein antikes Monster anmutet: Rückt man einem Punkt, einem Aspekt, einer Facette zu Leibe und glaubt dies durchdrungen und bewältigt zu haben, eröffnen sich dahinter neue Ebenen, Verweise, Symbole und Wege der Interpretation, die Abschweifung und Annäherung zugleich sind, sinnlicher Genuss und reine Abstraktion, Erinnerungsraum und psychologische Folterkammer.

Nicht allein deshalb eine dringende Empfehlung: Wer über genügend Sitzfleisch und ein entsprechendes Angebot des Kinos seines Vertrauens verfügt, sollte sich nach Möglichkeit Nymphomaniac Vol. 1 und 2 direkt hintereinander anschauen. Die Wirkung und das Korrespondieren der verschiedenen Elemente entfaltet sich dann auf noch ungleich stärkere Art und Weise. So oder so aber wird dieser Film bei jenen, die ihn gesehen haben, lange nachwirken und sicherlich für reichlich Diskussionsstoff sorgen – und der wird sich nicht um die expliziten Bilder drehen, sondern um das Labyrinth der Ideen, um die Erlebnisse Joes und darum, was das alles mit unserem Leben, unserer Lust, unserer Verzweiflung und unserem Hunger zu tun hat.

Nymphomaniac 2

Genau sechs Wochen liegen zwischen dem Kinostart von „Nymphomaniac 1“ und dem zweiten Teil des Films, der ursprünglich als noch viel längeres Gesamtwerk geplant war. Denn eigentlich sollte es diese Zweiteilung des Films ebenso nicht geben wie die unterschiedlichen Fassungen, die vielmehr den Vorgaben oder Annahmen über die Marktkonformität geschuldet sind.
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Meinungen

dkastens · 07.04.2014

Einen anderen Blickwinkel schlägt Stellan skarsga°rd an einer Stelle des Films vor. Wohlan: was da so hochgelobt und ergriffen bestaunt wird, stellt sich letztlich überwiegend als eine Snsammlung (allerdings gut fotografierter) Plattitüden dar. Es ensteht der Eindruck, als würde der Autor seinem Publikum zurufen: Hallo, Leute, die Erde ist keine Scheibe, und um sie herum dreht sich die Sonne!
Bis auf wenige Ausnahmen ist doch alles, was in diesem Film verhandelt wird, längst andernorts gesagt und verhandelt worden, zum Teil besser und radikaler.
von Trier sieht sich gern in der Gesellschaft von Tarkowski und kann es daher auch nicht lassen, hier und da ein zitat anzubringen, aber der Orgelchoral BWV soundso, der so großartig Anwendung in "Solaris" gefunden hat, wird bei Trier lediglich ver-wendet. Mir kommt L. v. T. im Verhältnis zu Tarkowski vor wie ein Gartenzwerg, der sich gerne als 'Denker' von Rodin sieht. Aber er ist es nicht und er wird es auch nie sein.
Die zuverlässige Konstante in Triers Filmen ist seine Sicht auf Frauen, denen es nach seinem Dafürhalten Bestimmung ist, zu leiden und sich zu opfern und schließlich daran zugrunde zu gehen.
Da steckt unübersehbar eine enorme und unverarbeitete Affinität zu Katholizismus und Faschismus drin, die sich mit hohlen Sätzen Luft zu machen versucht.
Beeindruckend, wei wenig das alles im Auditorium wahrgenommen wird. Vielleicht liegt's ja an der Form, dere Qualität im Inhalt keine Entsprechung findet.