Nymphomaniac 1 (2013)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Fucking by Numbers

Wovon erzählt man, wenn das Ende der Geschichte bereits stattgefunden hat? Was bleibt übrig nach dem Ende der Welt? Welche Bilder sind überhaupt noch denk-, fühl- und sichtbar, wenn soeben mit großem Getöse das letzte Licht auf der Erde erloschen ist? Angesichts dieser Fragen, die einem unwillkürlich nach Lars von Triers letztem Film Melancholia in den Sinn kamen, erschien es – verbunden mit dem Skandal um die aus dem Ruder gelaufene Pressekonferenz in Cannes und den Folgen – zumindest mit etwas Fantasie durchaus denkbar, dass sein letzter Film den (gleichwohl furiosen) Schlusspunkt unter eine großartige Karriere gesetzt hätte, die nun schon 30 Jahre währt.

Zum Glück aber (und so recht mochte niemand an das Ende der Welt und der Karriere von Triers glauben) stand solch ein Finale niemals ernsthaft zur Debatte und nun kündigt sich, begleitet von einer kongenial konzertierten Marketing- und PR-Kampagne, das neue Werk an, das in zwei Teilen (Vol.1 und Vol. 2) und verschiedenen Fassungen in die Welt entlassen wird. In Dänemark am 25. Dezember, in Frankreich, Belgien und den Niederlanden eine Woche später in den Kinos gestartet, wird der Tragödie erster Teil in der gekürzten Fassung in Deutschland am 20. Februar 2014 auf der großen Leinwand zu sehen sein, während wenige Tage vorher die vom Regisseur autorisierte Langfassung als Weltpremiere auf der Berlinale zu sehen sein wird.

Die ersten Bilder in Nymphomaniac 1 sind nichts als ein in Dunkelheit und Nachtschwärze getauchter Schöpfungsmythos: Während die gesamte Leinwand von undurchdringlichem Schwarz erfüllt ist, hört man die Geräusche fließenden, gluckernden, tropfenden Wassers, vermischt mit dem asthmatischen Kreischen eines vom Rost zerfressenen metallischen Gegenstands, der sich gegen die Widerstände seiner Verrottung gemäß seiner Funktion zu drehen bemüht. Dann Bilder, die fast ein wenig an die Eingangssequenz aus Gaspar Noés Irreversible erinnern, ohne gleichsam deren kalkuliertes Schwindelgefühl nachzuahmen: Langsame Fahrten an der Kante eines Daches entlang, von dem es rieselt, tropft, rinnt, vorbei am altersschwachen Ventilator einer Belüftungsanlage, die Backsteinwände eines Innenhofgevierts entlang, hinab auf die Frau, die zerschlagen und geschunden auf dem Boden liegt wie eine Tote. Oder wie ein Wesen, das aus großer Höhe vom Himmel hinab auf die Erde geschleudert wurde, ein gefallener Engel, eine Heimsuchung und himmlische Prüfung. Begleitet wird dieser bewusst sehr reduzierte, konzentrierte Auftakt von Rammsteins brachial hämmerndem Führe mich aus dem Jahre 2009, der hier eine leichte Überarbeitung erfuhr. Auch wenn der Song als Anfangs- und Endpunkt den musikalischen Rahmen für Nymphomaniac 1 bildet – weder musikalisch noch narrativ bilden die schroffen Gitarrenriffs und dumpfen Beats sowie die unheilvolle Stimme Till Lindemanns den Grundton des Filmes, sondern reflektieren lediglich eine von vielen Facetten, die jede auf ihre Art und Weise schlüssig und immer wieder mit großer sinnlicher Präsenz umgesetzt wurden.

Doch Joe ist kein gefallener Engel, sie ist weder Heimsuchung noch himmlische Prüfung, sondern eine gequälte Frau, deren Sexsucht sie weit über ihre eigenen Grenzen hinaus an alle erdenklichen Abgründe getrieben hat. Wie sie später so daliegt im Bett ihres Retters, zerschlagen und geschunden, angeknackst, aber nicht gebrochen oder zerstört, entpuppt sie sich in gewisser Weise als Nachfahrin von Sheherazade, die in der Rahmenhandlung der Sammlung aus 1001 Nacht aus purem Überlebenswillen und nackter Notwendigkeit dem persischen König Schahrayâr jede Nacht eine neue Geschichte erzählt, deren Handlung abrupt bei Morgengrauen abbricht. Joe aber ist keine Frau, die erzählt, um ihr Leben zu retten, sie versucht sich mit ihren Geschichten, die ihr Leben und ihre Qualen beschreiben, vielmehr selbst zu retten. Die Geschichte, IHRE Geschichte, die sie in acht Kapiteln (5 Kapitel in Teil 1 und 3 Kapitel in Teil 2) ihrem Retter Seligman (Stellan Skarsgård) erzählen wird, ist eine Lebensbeichte, mit der sie beweisen will, dass sie eine schlechte Person ist, deren moralisch falsches Verhalten ihren Zustand rechtfertigt. Dies zumindest bildet den Ausgangspunkt, ihre Erzählmotivation, weshalb sie sich diesem Fremden anvertraut. Bei genauerer Betrachtung erscheint diese Konstellation auch als Variation (und Parodie) einer psychoanalytischen Sitzung, bei der der „Therapeut“ ganz unverhofft zu seiner „Patientin“ kommt.

Die Episoden, die sie ihrem verständnisvollen, zumeist schweigenden, dann wieder sanft intervenierenden Zuhörer erzählt, sind – obwohl sie alle von ihrem sexuellen Reifungsprozess, ihrem Weg in die Nymphomanie erzählen, sehr unterschiedlich: Sie reichen von der kindlichen Entdeckung der eigenen Sexualität über das pubertäre Ausleben des Hungers nach Befriedigung in einem Wettbewerb mit der besten Freundin bis hin zum traumatisierenden Tod ihres Vaters. Am nachdrücklichsten in Erinnerung bleibt dabei das Kapitel 3 mit dem Titel Mrs. H., in dem die junge Joe (Stacy Martin) einen ihrer verheirateten Liebhaber loswerden will, weil eine halbe Stunde später schon der nächste auf der Matte steht. Dann aber steht nach kurz zuvor erfolgtem Abschied der untreue Ehemann schwanzwedelnd und mit gepackten Koffern vor der Tür – und hinter ihm in respektvollem Abstand die gerade verlassene Ehefrau (grandios: Uma Thurman) nebst den drei gemeinsamen Kindern, die dann alle Register des Psychokrieges zieht und die unfreiwillige Konfrontation so richtig unangenehm für alle Beteiligten werden lässt.

Diese Episodenhaftigkeit und dadurch verursachte Sprunghaftigkeit in der Narration erinnert ein wenig an Hélène Cattets und Bruno Forzanis am Giallo geschulten Psychodrama Amer, unterscheidet sich zugleich aber auch radikal davon, weil sich in Nymphomaniac jede Episode stilistisch und narrativ deutlich von der anderen unterscheidet, während in Amer der Stil gerade das verbindende Element darstellt.

Mag sein, dass die Langfassung von Nymphomaniac 1 den (ersehnten oder zumindest mit einkalkulierten) Skandal bringen wird. Man hört bereits, dass der Film im Director’s Cut nicht unbedingt tiefer in der psychologischen Zeichnung, sondern vor allem expliziter sein soll. Zum Skandal jedenfalls taugt Nymphomaniac 1 in der vorliegenden Form nicht – und das ist definitiv eine gute Nachricht. Doch es kommt noch besser: Bereits in dieser von Lars von Trier lediglich autorisierten Fassung (wobei durchaus zu hinterfragen wäre, inwiefern er sich als Bestandteil und Mitunternehmer der Produktionsfirma Zentropa so sehr gegen diese positionieren muss) bildet der erste Teil der Geschichte ein so dichtes, intensives und anregendes Geflecht aus Themen und Motiven, Variationen, Assoziationen, Improvisationen, Abschweifungen, Wiederholungen und Querverweisen (gerne auch auf das eigene Werk), dass man diesen Film zwei-, drei- oder viermal anschauen müsste (und es am besten auch tun würde) und dabei immer noch etwas Neues entdecken könnte.

Darüber hinaus erstaunt vor allem eines: Wie mühelos sich das scheinbar Schwere der Thematik und die zahlreichen Verweise hier zusammenfügen zu einer stimmigen, klugen und berührenden Komposition, deren (zumindest soweit man dies erahnen kann, denn schließlich ist dies nur der erste und noch dazu gekürzte Teil eines in Wahrheit größeren Werkes) vielschichtige Einzelstimmen und -themen sich wie durch Zauberhand zu einem harmonischen Ganzen verbinden. Der im fünften Kapitel The Little Organ School angesprochene Cantus firmus Johann Sebastian Bachs erfährt hier sein cineastisches Äquivalent und überrascht zugleich mit einem durch Split Screen hergestellten Triptychon, das auf verblüffende Weise die Mechaniken des Begehrens sichtbar macht.

Vor allem aber zeigt der Film auch, wie Filmmarketing heute funktionieren kann und wie bedingungslos viele Medien in ihrer Versessenheit auf Verkaufs- und Klickzahlen diesem Vorgehen folgen und jede noch so gewagte Meldung (beispielsweise über ein angebliches Penis-Casting, dem sich Shia LaBeouf unterziehen musste) zum Skandälchen aufblasen.

Gut möglich, dass es schwer fällt, sich diesem medialen Hype zu entziehen. Doch die Mühen des Ausblendens und der Konzentration auf das Wesentliche lohnen sich wie selten zuvor. Denn was man hier zu sehen bekommt, ist verdammt nah dran an dem, was das Kino immer noch sein kann: Nymphomaniac 1 vereint Provokation und Milde, Offenheit und Stringenz, Seelentiefe und schimmernde Oberfläche, Klugheit, Spiritualität und Wut zu einem über die Maßen betörenden Ganzen.

Zugleich aber (und es würde nicht wundern, wenn dies nicht wieder einer dieser schlauen Tricks des Zauberers Lars von Trier wäre) erscheint der erste Teil des Werkes in seiner gekürzten Fassung an manchen Stellen fast ein wenig brüchig, ein wenig stolpernd im Rhythmus und so ungeschliffen und rau, als wolle der Filmemacher dadurch mehr andeuten als zeigen, dass dieser erste Teil lediglich eine Vorahnung von dem gibt, was dieser Film noch sein kann – ein schon sehr großer und verdammt guter Film trägt auf diese Weise das Versprechen in sich, womöglich noch weiter zu wachsen – wann hat es das je gegeben. Und was würde auch besser zur manisch-depressiven Wesensart des Regisseurs passen?

Und so kann, nein muss man gespannt und voller Vorfreude sein auf den zweiten Teil der Geschichte und jede weitere Fassung. Am Ende, so darf man zudem hoffen, werden sich diese einzelnen Bestandteile zu einem prachtvollen Kunstwerk zusammenfügen, das lange Bestand haben wird.
 

Nymphomaniac 1 (2013)

Wovon erzählt man, wenn das Ende der Geschichte bereits stattgefunden hat? Was bleibt übrig nach dem Ende der Welt? Welche Bilder sind überhaupt noch denk-, fühl- und sichtbar, wenn soeben mit großem Getöse das letzte Licht auf der Erde erloschen ist? Angesichts dieser Fragen, die einem unwillkürlich nach Lars von Triers letztem Film „Melancholia“ in den Sinn kamen, erschien es – verbunden mit dem Skandal um die aus dem Ruder gelaufene Pressekonferenz in Cannes und den Folgen – zumindest mit etwas Fantasie durchaus denkbar, dass sein letzter Film den (gleichwohl furiosen) Schlusspunkt unter eine großartige Karriere gesetzt hätte, die nun schon 30 Jahre währt.

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