Narren (2003)

Eine Filmkritik von Wolfgang Nierlin

Unter der Diktatur des Frohsinns

Die heiße Phase des niederrheinischen Karnevals ist erreicht, die ausschweifendsten Tage beginnen. „Lasst sie raus, die Sau!“, befiehlt im Prolog zu Tom Schreibers Spielfilmdebüt Narren ein Hitler-Imitator, um gleich darauf kollektiven Frohsinn zu verordnen: „Das deutsche Volk muß sich befreien von seiner Schwermut.“ Die groteske Überzeichnung von Rausch und Entgrenzung im Taumel der Sinne steht von Anfang an im Zeichen des Todes. Symbolträchtig baumelt ein Gehenkter als Memento mori vor dem Wohnungsfenster des Protagonisten Roman Bützer (Christoph Bach). Auf der Straße kommt ihm gleich darauf ein Schildträger mit Worten des Psalmisten entgegen: „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“ Unter der Diktatur des närrischen Treibens verschwistern sich Eros und Thanatos. Ihre gegensätzlichen Triebe erzeugen eine wechselvolle Spannung zwischen vermeintlicher Befreiung und surrealer Klaustrophobie, zwischen staatlich legitimierter Enthemmung und raum-zeitlicher Ausweglosigkeit. Dabei werden die Grenzen der öffentlichen Ordnung verwischt: Bedrohung und latente Gewalt mischen sich in die allgegenwärtigen Übergriffe.

Wie ein Gefangener irrt Roman durch diesen absurd und fremd gewordenen Alltag, der sich unter seinen Augen in eine kafkaeske Alptraumwelt verwandelt. Nicht von ungefähr erinnern sein Wesen und Habitus an die Figuren des Prager Schriftstellers. Der schüchterne, leicht zerstreut wirkende Roman – als Einzelkind aufgewachsen und später von der Mutter verlassen – ist ein „Zugezogener“ und schon deshalb ein wunderlicher Fremder im System des karnevalistischen Brauchtums zu Köln. Im Kontrast zur Umgebung wirkt seine ordentliche, korrekte Art wie ein Anachronismus, der von den farblosen, antiquiert erscheinenden Bildern unterstrichen wird. Im Büro, wo Roman als technischer Zeichner arbeitet, ist er Spott und aufgezwungener Nähe ausgesetzt. Seine Befindlichkeit wird von einer existentiellen Angst grundiert, wie er selbst einmal gesteht. Als er sich in die schöne Stella (Victoria Deutschmann) verliebt und als nichtsahnender Denunziant Zeuge am Totschlag ihres jüngeren Bruders wird, überlagern Schuldgefühle diese Disposition. Bald darauf stirbt auch noch seine demenzkranke, aber bis an ihr Lebensende karnevalsverrückte Großmutter (Hannelore Lübeck).

Fortan entfaltet ein zunehmender Realitätsverlust seine skurrilen Wirkungen. Dabei werden auf verblüffende Weise Romans Halluzinationen der maskierten, fratzenhaften Wirklichkeit immer ähnlicher. Auf dem Höhepunkt dieses ebenso heiteren wie düsteren Horrortrips schiebt der junge Mann seine tote Oma, in ein Eisbärenfell gehüllt, durch den von ihr zu Lebzeiten herbeigesehnten Rosenmontagsumzug. Der selbstironische Abgesang eines gestreßten Karnevalsprinzen auf die fünfte Jahreszeit schließt sich an, bevor Roman schließlich selbst den Strick nimmt, aber sein Ziel neben der Attrappe vor dem Fenster knapp verfehlt. In diesem Scheitern liegt eine Läuterung. Denn Tom Schreibers Narren erzählt nicht zuletzt eine Entwicklungsgeschichte, die als deliriöse Odyssee zwischen Schmutzigem Donnerstag und Aschermittwoch ihren Lauf nimmt.
 

Narren (2003)

Die heiße Phase des niederrheinischen Karnevals ist erreicht, die ausschweifendsten Tage beginnen. „Lasst sie raus, die Sau!“, befiehlt im Prolog zu Tom Schreibers Spielfilmdebüt „Narren“ ein Hitler-Imitator, um gleich darauf kollektiven Frohsi

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Meinungen

Sacha Jansen · 20.06.2019

Schöner Text!
Ist schon eine Weile her, seit ich diesen Film gesehen habe, aber ist es nicht eher der "Geisterzug" über den der Protagonist seine tote Oma schiebt?
Hab ich jetzt nicht mehr ganz vor Augen, aber der Geisterzug spielt auf jeden Fall auch eine Rolle ...
Aber wie gesagt, schöner Text! :)