Mein Vater. Mein Onkel.

Eine Filmkritik von Claire Horst

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

Der knapp dreißigjährige Sinan, aufgewachsen irgendwo in Hessen, lebt als Schauspieler in Berlin. Dass Bruni, die ihn aufgezogen hat, nicht seine leibliche Mutter ist, hat für ihn bisher nie eine Rolle gespielt. Doch er hat noch eine Familie im Iran. Die Briefe seiner dort lebenden Geschwister hat er jahrelang nicht geöffnet. Sie haben ihn nicht genug interessiert, und vielleicht hatte er auch Angst davor. Erst als sein Freund, der Regisseur Christoph Heller, auf die Idee kommt, die Geschichte von Sinans Herkunft zu verfilmen, beschließt dieser, mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen.
Soweit die Ausgangslage. Die Frage, die sich die Zuschauer stellen, tut sich auch für Sinans leiblichen Vater auf: Ist sein Sohn wirklich am Kennenlernen der Familie interessiert, oder geht es ihm als Schauspieler nur um die Popularität, die ein Dokumentarfilm mit sich bringen kann?

Heller und Kameramann Manuel Kinzer gelingt das Kunststück, mit der Kamera ganz im Hintergrund zu bleiben. Vom ersten telefonischen Kontakt bis zum Treffen in Dubai, wo die irakische Familie inzwischen lebt, begleiten sie Sinan auf seiner Reise zu den eigenen Wurzeln. Dass er Schauspieler ist, nimmt man dem jungen Selbstdarsteller fraglos ab, so freudig kokettiert er mit der Kamera, mimt Erstaunen, Erschrecken oder Freude.

Anfangs entsteht dabei fast Mitleid mit seiner leiblichen Familie, die ihn jahrelang gesucht hat. Mit großer Selbstverständlichkeit nehmen sie ihn als Teil der Familie auf, seine Mutter hält ihn minutenlang weinend in den Armen, während er scheinbar teilnahmslos im Raum umherblickt. Doch auch seine Sicht ist nachvollziehbar: Völlig unbekannte Menschen sind es, die ihn da als Sohn beanspruchen und von ihm Nähe erwarten.

Im Vergleich mit seinen älteren Brüdern wird deutlich, wie weit die Lebenswelten der jungen Männer auseinander liegen. Wie alle Erwachsenen in der Familie sind die Brüder Khaldon und Omar verheiratet, haben Kinder und stehen im Berufsleben. Auch die Schwester, die im Film nicht auftaucht, hat ein Studium abgeschlossen. Sinan dagegen ist ein prototypischer junger Berliner. Noch immer beschäftigt er sich mit dem Prozess des Erwachsenwerdens, grübelt über seine depressive Pubertät nach, in der er zum „Hardcore-Kiffer“ geworden war, und geht eher One-Night-Stands als feste Beziehungen ein. Auf die Frage, warum er auf den Brief seines Bruders erst nach sieben Jahren geantwortet hat, fällt ihm nur ein: „Ich habe es immer auf den nächsten Tag verschoben“.

Die unaufdringliche Begleitung der Protagonisten und deren große Offenheit ermöglichen es, beide Seiten zu verstehen. Für Sinan bedeuten die Wochen, die er bei der Familie verbringt, ein Eintauchen in eine völlig fremde Welt. Den weiblichen Bekannten darf er nicht einmal die Hand schütteln, von den entferntesten männlichen Verwandten wird er dagegen bei jeder Begrüßung geküsst. Beschreiben kann er seine Gefühle nur in dürren Worten. Krass findet er das alles, irgendwie unglaublich. Seine Schüchternheit äußert sich in ständigem nervösem Lachen, das manchmal schwer erträglich ist – umso schwieriger ist es nachzuvollziehen, warum er diese persönliche Entwicklung öffentlich machen wollte.

Für die Eltern und Geschwister dagegen ist es traurig mitzuerleben, dass ihr Sohn und Bruder weder arabisch spricht, noch die geringste Vorstellung von den Regeln des Islam hat. Am liebsten möchten sie ihm eine Frau suchen, ihn in der Familienfirma aufnehmen und irgendwann gemeinsam in den Irak zurückkehren. Trotzdem zeigen sie sich als sehr offen für die westliche Prägung des Bruders. Diskutieren wollen sie, betonen alle. Vielleicht könne man ja einige Einstellungen von ihm übernehmen, er dagegen ihre – je nachdem, welche die bessere sei. Dass Sinan weder schwul noch Alkoholiker ist, empfindet sein Bruder zumindest als große Erleichterung. Über alles andere lässt sich reden, findet er.

Erst in Dubai erfährt Sinan, was es mit seiner Adoption auf sich hat. Seine deutsche Mutter war mit dem Bruder seines leiblichen Vaters im Irak verheiratet. Da das Paar keine Kinder bekommen konnte, gaben Sinans Eltern ihnen den jüngsten Sohn zur Pflege. Denn seine Mutter hatte bereits zwei Söhne und war als Lehrerin berufstätig. Geplant war, dass die Kinder dennoch innerhalb der Großfamilie gemeinsam aufwachsen würden. 1982 geriet der leibliche Vater in Kriegsgefangenschaft, kurz darauf reiste die Pflegemutter, die sich von ihrem Mann trennen wollte, mit Sinan nach Deutschland – vorgeblich zu ihrer kranken Mutter. Sie kehrte nie zurück. Der Vertrag, den seine Eltern ausgehandelt hatten – islamische, arabischsprachige Erziehung und ein Verbot, den Irak mit ihm zu verlassen – wurde damit gebrochen. Die Eltern gaben es nie auf, ihren Sohn wiederzusehen. Ob Bruni Sinan adoptiert hatte oder wie es ihr sonst möglich war, den Jungen zu behalten, wird aus dem Film nicht deutlich.

Die Suche nach der eigenen Identität schildert der Film sehr eindrücklich, die Unsicherheit und Überforderung, aber auch schnell sich entwickelnde Nähe und Zuneigung zu Eltern und Geschwistern rühren an. Etwas enttäuschend ist das plötzliche Ende des Films – gern wüsste man, wie es weitergeht mit den neu geknüpften Familienbanden und wie sich das Treffen auf das Verhältnis zur deutschen Mutter ausgewirkt hat.

Eine Spur davon findet sich in der Datei von Sinan al Kuris Agentur. Dort ist verzeichnet, der Schauspieler spreche arabisch – was er zur Zeit der Dreharbeiten noch nicht konnte. Ein Zeichen dafür, dass die Auseinandersetzung doch weiterging? Mein Vater. Mein Onkel zeichnet behutsam eine Identitätssuche nach und vermittelt deutlich, dass kulturelle Unterschiede nicht trennen müssen. Das gegenseitige Verständnis überwiegt. Ein kleines Unbehagen bleibt jedoch – eigentlich hätte man dem jungen Sinan gewünscht, diese hochsensible Erfahrung allein zu machen statt vor der Kamera. Doch für einen Schauspieler ist diese vielleicht sogar ein Schutz.

Mein Vater. Mein Onkel.

Der knapp dreißigjährige Sinan, aufgewachsen irgendwo in Hessen, lebt als Schauspieler in Berlin. Dass Bruni, die ihn aufgezogen hat, nicht seine leibliche Mutter ist, hat für ihn bisher nie eine Rolle gespielt. Doch er hat noch eine Familie im Iran. Die Briefe seiner dort lebenden Geschwister hat er jahrelang nicht geöffnet.
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Meinungen

r.wadel@web.de · 17.10.2010

Ein wirklich beeindruckender Film. Leider konnte ich den Abspann am TV-Gerät nicht lesen. Wie ist die Geschichte denn weiter gegangen?

Fritz · 16.05.2010

Ergänzung:

"Erst in Dubai erfährt Sinan, was es mit seiner Adoption auf sich hat."

Das stimmt so nicht. Sinans deutsche Mutter erzählt ihm die Geschichte der Adoption bereits in Deutschland. In Dubai erfährt Sinan lediglich eine zweite Perspektive.