Martha Marcy May Marlene (2011)

Eine Filmkritik von Lida Bach

Familienleben

Es gibt Regeln. Eine davon ist, dass die zweite Gruppe auf dem Boden schläft, eine andere, dass die zweite Gruppe nur die Reste essen darf, welche die erste Gruppe übriglässt. Die Regeln sind das einzige, was einen Schatten auf das entlegene Farmhaus wirft, in dem Marcy May (Elizabeth Olsen) lebt. Eines Tages flieht sie daraus, weil der Schatten alles verdunkelt, auch die Seele von Marcy May.

Martha hat niemanden, nur ihre Angst. Zu der Familie, bei der sie zwei Jahre lebte, kann sie nicht zurück. Also sucht sie Zuflucht bei der alten Familie, die sie seitdem nicht mehr gesprochen hat, ihrer Schwester Lucy (Sarah Paulson) und deren Ehemann Ted (Hugh Dancy), die das erschütterte Mädchen in ihr komfortables Ferienhaus aufnehmen. Wo sie war, deutet Martha nur an. Es gab einen Mann und Lügen. Und Martha hat sie geglaubt. Der Mann hieß Patrick (John Hawkes). Er hat die Regeln aufgestellt und Martha zu Marcy May gemacht. Mit seiner sanften Stimme, die seine Unerbittlichkeit verbirgt, bedrängte Patrick Marcy May zu ihm und den anderen zurückzukehren. Doch Marcy May ist wieder Martha. Martha hat keine Familie im Wald, die Patricks Gesetzen folgt, nur ihre Angst: dass die anderen kommen, um sie zu holen.

Martha Marcy May Marlene, Martha Marcy May Marlene…. Der befremdliche Titel, unendlich wiederholt, entfaltet selbst den mantraartigen Sog der Sekte, bei der Martha zwei Jahre lebte. Auf dem Filmposter verblassen die Worte nicht, Symbol für die Auflösung von Marthas Persönlichkeit. Bestechend und beklemmend, ist Sean Durkins Debüt ein Thriller, dessen malerische Szenerie das Furchtbare verschleiert, das der Titelfigur dort geschah und das, an dem sie Teil hatte. Die Sektengemeinschaft funktioniert als ausgeklügeltes Räderwerk, das seine Mitglieder zwingt, den erlittenen Druck selbst auf andere auszuüben. Mit milder Stimme und eisigem Blick ist John Hawkes der beängstigende Motor dieses Getriebes, von dem Martha abhängt und das sie zugleich fürchtet. Ob ihre Angst begründet oder Folge der Traumatisierung ist, bleibt oft vage. Gefühlt ist Marthas Angst nicht minder real. Das Gefühl drückender Paranoia macht Durkins Psycho-Drama zu einem einschneidenden Thriller, der sich fast ausschließlich in der Seele der Charaktere abspielt.

Schritt für Schritt schleicht sich die Wahrheit über Marthas Erlebnisse in ihr neues Leben. Aus welcher Art von Welt sie geflohen ist, zeigt Durkin in einer raffinierten Komposition aus Vergangenheits- und Gegenwartsszenen, die offenkundigen Schrecken mit subtiler Beklemmung kontrastiert. In einem solchen Moment geht sie im See vor dem Ferienhaus schwimmen, doch was ein leichtherziger Moment sein könnte, beraubt Martha Macy May Marlene jeder Unbeschwertheit. Martha zieht sich aus, ohne Bewusstsein für gesellschaftliche Normen. Ihr Handeln motiviert keine befreiende Natürlichkeit, denn Martha ist unfrei. Seelisch bleibt sie Gefangene der Sekte, der sie scheinbar entkommen ist.

Die Auswirkungen des Erlebten erstrecken sich nicht nur auf Marthas zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auf ihr gesamtes Verhalten. An Stelle der gängigen Verhaltensschemata der normalen Gesellschaft sind die bizarren Grundsätze der Sekte getreten. Ähnlich erschütternd wie der Ausbruch aus der Normalität ist die Rückkehr in diese. Das idyllisch gelegene Ferienhaus erscheint Martha als eine fremde Welt, in der die unanfechtbaren Grundsätze des Kults plötzlich außer Kraft gesetzt sind. Ihren Weg darin kann sie sich nur ertasten. Die Sekte folgt keiner Religion, sie ist die Religion. Ihr Regelwerk dient allein der psychischen Zermürbung und Festigung von Abhängigkeitsstrukturen, die sexuelle Unterdrückung und Ausbeutung ermöglichen.

Das tatsächliche Ausmaß des Traumas lassen Andeutungen und schmerzliche Rückblenden nur erahnen. Einmal spricht Martha von dem Gefühl, nicht zu wissen, ob etwas eine Erinnerung oder ein Traum sei. Von Traum und Erinnerung bleibt der Hauptfigur in Martha Marcy May Marlene das gleiche Gefühl, nur ihre Angst.
 

Martha Marcy May Marlene (2011)

Es gibt Regeln. Eine davon ist, dass die zweite Gruppe auf dem Boden schläft, eine andere, dass die zweite Gruppe nur die Reste essen darf, welche die erste Gruppe übriglässt. Die Regeln sind das einzige, was einen Schatten auf das entlegene Farmhaus wirft, in dem Marcy May (Elizabeth Olsen) lebt.

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