Louise en hiver

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Einsamkeit im Alter

Biligen-sur-Mer ist einer jener Orte am Meer, an dem sich im Sommer die Touristen wie die Ölsardinen am Strand stapeln. Ein kleines Städtchen, das erfüllt ist vom Geschrei der Kinder, von den bunten Farben der Sonnenschirme und Badeanzüge, vom Duft nach Eiscreme und Sonnenmilch. Und man vermag es sich kaum vorzustellen, wie rein touristische Konstrukte wie diese in der Nachsaison oder gar im Winter aussehen, wenn alles Leben aus ihnen gewichen ist. Und normalerweise erfährt man dies auch nie, denn was ist schon trister als solch ein Städtchen, wenn es unbewohnt ist?
Auch Louise würde dies nie erfahren, denn die alte Frau, die hier ihre Sommermonate verbringt, plant fest mit ihrer Rückreise. Doch dann verpasst sie den letzten Zug der Saison und sitzt plötzlich fest — ohne Telefon, jeglichen Kontakt zur Außenwelt und ohne die Chance, Biligen-sur-Mer zu entkommen. Es ist der Beginn eines Abenteuers, das sich fast wie eine moderne Version der Abenteuer von Robinson Crusoe ausnimmt — mit dem winzig kleinen Unterschied, dass der Ort ihrer Gefangenschaft keine Insel ist, sondern ein kleines Städtchen am Meer, das außerhalb der Saison in den Schlaf des Vergessenwerdens fällt. Und dieses Schicksal ereilt auch Louise, die niemanden hat, der auf sie wartet und der sie vermisst.

Louise, die Biligen seit ihrer Kindheit kennt und schon damals ihre Sommermonate hier verbrachte, überlässt sich ihrem Los und ist fortan damit beschäftigt, für ihr Überleben zu sorgen und ihren Erinnerungen nachzuhängen. Immer wieder schweifen ihre Gedanken ab in die Tage ihrer Kindheit; Realität, Fantasie und Bruchstücke der Vergangenheit vermischen sich zusehends und so wird gerade das Festsitzen an einem Ort zu einer Befreiung für ihren altersmüden Geist, der sich mit der Neugier eines Kindes auf das Abenteuer einlässt und die Natur und den Wechsel der Jahreszeiten erforscht. Weil ihr das Haus, in dem sie in Biligen lebt, öde wird, baut sie sich mit gefundenen Materialien eine Hütte am Strand, freundet sich mit einem herumstreunenden Hund an und fischt sich das, was sie zum Leben braucht, selbst aus dem Meer.

Jean-François Laguionie ist ein vielfach ausgezeichneter französischer Animationsfilmer, der schon zahlreiche Werke realisiert hat und bereits 77 Jahre alt ist — und doch ist sein Name trotz einer mittlerweile 50 Jahre andauernden Karriere allenfalls ausgewiesenen Kennern des Trickfilms ein Begriff. Das wird sich zwar auch mit Louise en hiver kaum ändern, dennoch ist dieser Film definitiv einen Blick wert. Sein kontemplatives Werk über Einsamkeit im Alter vor der großartigen Kulisse eines Geisterstädtchens am Meer lädt auch aufgrund der wunderschönen Animationen geradezu dazu ein, sich auf das langsame Tempo der Erzählung und den steten Fluss der Bilder einzulassen. Wobei der Film aufgrund seiner allenfalls fragmentarisch vorhandenen Handlung und trotz der geringen Laufzeit von gerade mal 75 Minuten schon einiges an Geduld abverlangt. Was natürlich auch daran liegt, dass es aufgrund der Konstellation und der Vereinsamung von Louise kaum Dialoge gibt, sondern allenfalls innere Monologe, die mit brüchiger Stimme vorgetragen werden.

Die reduzierte Ästhetik der Animationen erinnert einerseits an die Flächigkeit der ligne claire und rekurriert andererseits auf Vorbilder aus der Kunstgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aquarelltechniken, Tusche und Kreide, aufgetragen auf einen strukturierten Untergrund sowie eine überwiegend gedeckte, ins Pastellige gehende Farbpalette, lassen viel Raum für Zwischentöne und Gedankenreisen, die Louise en hiver zu einer kontemplativen Reflektion über das Leben und die Vergänglichkeit werden lassen.

Louise en hiver

Biligen-sur-Mer ist einer jener Orte am Meer, an dem sich im Sommer die Touristen wie die Ölsardinen am Strand stapeln. Ein kleines Städtchen, das erfüllt ist vom Geschrei der Kinder, von den bunten Farben der Sonnenschirme und Badeanzüge, vom Duft nach Eiscreme und Sonnenmilch. Und man vermag es sich kaum vorzustellen, wie rein touristische Konstrukte wie diese in der Nachsaison oder gar im Winter aussehen, wenn alles Leben aus ihnen gewichen ist.
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