Klass (2007)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wenn aus Opfern Täter werden...

Littleton, Erfurt, Winnenden, Ansbach und etliche andere Orte – es gibt Nachrichten, an die man sich einfach nicht gewöhnen kann. Und doch stehen wir den Amokläufen in Schulen, die in den letzten Jahren immer wieder die Öffentlichkeit erschüttern, erschreckend hilflos gegenüber, können es nicht fassen und noch weniger nachvollziehen, was in den jugendlichen Tätern vor sich geht. Und gerade weil das Ganze so unbegreiflich ist, neigen wir – und vor allem die Medien dazu -, die Täter systematisch zu entmenschlichen und zu dämonisieren. Als könnte man damit das Böse bannen, das sich so offensichtlich mitten unter uns befindet, dessen Ursachen häufig Missstände sind, die uns alle betreffen – sei es Verwahrlosung, die Allgegenwärtigkeit von Gewalt, Hierarchien und Hackordnungen und unsere Unfähigkeit hinzuschauen und Fehlentwicklungen zu erkennen.

Der estnische Regisseur Ilmar Raag hielt sich 1999 in den USA auf, als sich der Amoklauf an der Columbine High School, in dessen Verlauf 13 Menschen sowie die beiden Täter selbst ums Leben kamen, ereignete. Da Raag einen Freund hatte, der als Psychologe arbeitete, erfuhr er von diesem viele Hintergründe des Schulmassakers, die nie an die Öffentlichkeit gelangten und beschloss, auch aufgrund eigener Gewalterfahrungen in Schule und Armee, das Thema in einem Spielfilm zu verarbeiten. Als Gus Van Sant im Jahr 2003 seinen Film Elephant veröffentlichte, der sich ebenfalls mit dem Schulmassaker von Littleton auseinandersetzt, glaubte Raag zunächst, es sei ihm jemand anderes zuvorkommen – bis er feststellte, dass Van Sants Film einen anderen Fokus setzte. So beschloss er, seinen Film doch noch zu realisieren. Klass ist eine beklemmende Fallstudie über das Entstehen von Gewalt an Schulen geworden – vielleicht nicht immer hundertprozentig glaubwürdig, aber doch von solch einer schockierenden Intensität, dass der Film seine Zuschauer noch lange beschäftigen wird. Vielleicht auch deshalb, weil Klass radikal die Sicht der beiden späteren Täter einnimmt und verdeutlicht, dass sie eine qualvolle „Opferkarriere“ hinter sich haben, bevor sie zu Tätern werden.

Schon die ersten, rasant und sehr rhythmisch montierten Szenen machen deutlich, dass Joosep (Pärt Uusberg) innerhalb seiner Klasse ein Außenseiter ist, ein unsportlicher und sehr introvertierter „Freak“ eben. Beim Basketballspiel in der Schule wird er angerempelt, angepflaumt und wehrt sich auf seine Weise, als er versucht, den Ball im eigenen Korb unterzubringen. Was seine Klassenkameraden freilich nur noch mehr gegen ihn aufbringt. Unter dem Kommando von Anders (Lauri Pedaja) wird der Schuldige ausgezogen und fast nackt in die Umkleidekabine der Mädchen befördert. Dies ist lediglich der Beginn einer ganzen Reihe von Quälereien und Demütigungen, denen sich der Junge im Laufe der nächsten Tage (der Film verdichtet die Handlung auf sieben Tage) ausgesetzt sieht. Niemand sieht sein Leiden – bis auf Kaspar (Vallo Kirs), einen Jungen vom Lande, der eigentlich bestens in die Klasse integriert ist und der mit der hübschen Thea (Paula Solvak) liiert ist.

Als sich Kaspar aber schützend vor Joosep stellt, wertet die Klasse das als Verrat und quält von nun an beide Mitschüler. Schleichend gerät auch Kaspar ins Abseits, Thea wendet sich von ihm ab und die Versuche der Lehrer, den offensichtlichen Ungerechtigkeiten auf den Grund zu gehen, scheitern an der Sturheit des Anführers Anders und der Unfähigkeit von Kaspar und Joosep, über das erlittene Unrecht zu sprechen. Vor allem aber scheitern sie, weil niemand in der Klasse sich den immer heftiger werdenden Quälereien, Demütigungen und Übergriffen in Weg stellt, sondern alle irgendwie mitmachen. Bis Joosep und Kaspar keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich mit Waffengewalt Gehör und Respekt zu verschaffen…

Klass ist fraglos ein Film, der durch die gezeigte Gewalt schockiert – und der doch einen Teil seiner Absichten verfehlt. Was weniger am nüchternen und oftmals beinahe dokumentarischen, dann wieder sehr stilisierten Look des Films liegt als vielmehr an den vesrchiedenen Zuspitzungen und Verdichtungen, die manchen Zuschauer doch gehörig an der Glaubwürdigkeit des Gezeigten zweifeln lassen. Dass sich außer Kaspar niemand auf die Seite von Joosep schlägt, sondern alle anderen Schüler der Klasse das Treiben von Anders und seinen Kumpanen billigen oder sich daran beteiligen, mag man kaum glauben. Und dass selbst Thea, Kaspars Freundin, sich von diesem abwendet, wirkt gerade angesichts der kurzen Zeit, in der die Handlung verortet ist, grob überzeichnet. Ebenso unverständlich ist es, dass trotz der Übergriffe auf den Fluren aus Joosep auf den Fluren der Schule nie ein Lehrer etwas von den Prügeleien mitbekommt.

Auch kann man die Eindimensionalität der Erzählweise und die Darstellung des Massakers am Ende des Films durchaus in Frage stellen. Wenn Joosep sich in einer Szene die Markenembleme von seinem Sweatshirt schneidet und meint, nun sei er im Gegensatz zu seinen Mitschülern wenigstens ein echter Mensch, dann schwingt hier eine Konsumkritik mit, die sich in dem Film wie ein Fremdkörper ausnimmt und die die späteren Täter zumindest ansatzweise glorifiziert. Wenn die beiden zudem während des Massakers einzelne Schüler entkommen lassen, um gezielt gegen ihre Peiniger vorzugehen, dann hat das mit der Realität vieler ähnlicher Taten wenig zu tun.

Vielleicht bieten aber gerade diese offensichtlichen Auffälligkeiten und Schnitzer des Films eine Chance, ihn zu nutzen: Als Ansatzpunkt für Aufklärung und Diskussionen mit Schülern, an welchen Punkten der Geschichte die Beteiligten hätten anders reagieren können, reagieren müssen. In etlichen Vorführungen des Films, so berichtet der Regisseur, hätten Schüler geweint und sich zutiefst betroffen gezeigt. Womit der Film sein Ziel ja erreicht hat. Auch wenn er – nicht nur aufgrund der gezeigten Grausamkeiten und des grundlegenden Versagens jeglicher Kommunikation — ein sehr ambivalentes Gefühl hinterlässt.
 

Klass (2007)

Littleton, Erfurt, Winnenden, Ansbach und etliche andere Orte – es gibt Nachrichten, an die man sich einfach nicht gewöhnen kann. Und doch stehen wir den Amokläufen in Schulen, die in den letzten Jahren immer wieder die Öffentlichkeit erschüttern, erschreckend hilflos gegenüber, können es nicht fassen und noch weniger nachvollziehen, was in den jugendlichen Tätern vor sich geht.

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Meinungen

Bianca K. · 17.08.2014

Ich glaube an die Realität dieses Filmes.....vor allem daran, wie sehr die Opfer, die nachher Täter werden, zu leiden haben.....war selber in der Schulzeit ein Außenseiter. ...immer zu denen schauend, die die ganze Aufmerksamkeit "genießen", immer der Mittelpunkt allen Geschehens sind....man selbst steht da.....ist ein "Nichts", ein "Niemand".....denkt man.....keiner merkt etwas, geschweige denn, hilft !!!!!