In ihrem Haus

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Macht der Erzählung oder: Bovarysmus für Fortgeschrittene

Wie soll man der Schülergeneration von heute noch etwas vom Zauber der Literatur beibringen? Mit dieser Frage sieht sich auch der altgediente Französischlehrer Germain (Fabrice Luchini) konfrontiert, als er lustlos die Aufsätze seiner Schüler durchblättert und darin nichts vorfindet außer maulfaulen Zeugnissen der Langeweile und Abgestumpftheit. Bis er auf das Werk des bislang eher unauffälligen Schülers Claude (großartig: Ernst Umhauer) stößt, das mit einiger Erzählkunst das Interesse des frustrierten Pädagogen erregt. In dem Aufsatz schildert der Junge aus schwierigen sozialen Verhältnissen, wie er sich das Vertrauen seines Mitschülers Rapha (Bastien Ughetto) erschleicht und sich als perfider Manipulator in dessen Haus einschleicht, um dort der Mutter seines Klassenkameraden (Emmanuelle Seigner) nachzustellen.
Was in amerikanischen MILF-Pornos nun unweigerlich in endlose Kopulationen mit unbefriedigten und gelangweilten Mittelstandsmüttern münden würde, wird unter der Regie von Francois Ozon zu einem perfiden Spiel mit mehrfachem Boden. Denn der ebenfalls unterforderte Lehrer erliegt der Macht der Erzählung und verstrickt sich im eigenen Voyeurismus und in der Teilhabe an einem fremden Leben, die der Schüler mit seinem sich stets wiederholenden Schlusssatz „Fortsetzung folgt…“ weiterhin befeuert. Unter dem Vorwand, das schriftstellerische Talent des 16-jährigen Nachwuchsromanciers zu fördern, versucht Germain Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte zu nehmen. Dabei übersieht der Pädagoge geflissentlich, dass er ein nicht unwesentlicher Teil der Versuchsanordnung ist, die Claude in einer Mischung aus Fiktion und Realität aufgebaut hat. Denn selbst ausgewiesene Kenner der Literatur sind nicht gefeit vor dem „Bovarysmus“, also jener von Daniel Pennac in seinem Büchlein Wie ein Roman beschriebenen fatalen Neigung, die Literatur mit dem Leben zu verwechseln.

Am Ende des Films, wenn Lehrer und Schüler beieinander sitzen und ihre eigenen Geschichte zu einem bitteren Ende getrieben haben, gewährt Ozon den Blick auf ein Haus, hinter dessen Fenstern sich all die Geschichten abspielen, die das Leben schreibt: Eine Ménage-à-trois endet mit einem Schuss, daneben liebt sich ein Paar, darunter sitzt eine Familie einträchtig zusammen, posiert eine Frau in verführerischer Unterwäsche vor dem Spiegel. Es ist beinahe so, als wolle uns Ozon damit vorführen, auf wie viele verschiedene Weisen er seine Geschichte hätte erzählen können, wenn er nur gewollt hätte. Und tatsächlich stecken in Ozons geistreichem Spiel verschiedene Elemente; In ihrem Haus ist eine überaus gelungene Melange aus Psychodrama Chabrolscher Prägung, bissiger Parabel und machtvoller Metaerzählung über die Wirkungsweisen der Literatur und letztlich auch das Kino selbst.

Neben den unsichtbaren, aber stets präsenten Referenzen an Chabrol gibt es auch direktere Bezüge Ozons zu anderen Regisseuren, namentlich an Woody Allen, dessen kühles Beziehungsdrama Match Point Germain und seine Frau (Kristin Scott Thomas) an einer Stelle verlassen. Zugleich erinnert auch die von Fabrice Luchini treffend gezeichnete Mischung aus Intellektualität und ziellosem Begehren sowie dessen eigene Beziehung an die Filme des New Yorker Regisseurs. Wobei es Ozon versteht, dem Plot einen gesellschaftskritischen Unterton einzuhauchen, den man in dieser Deutlichkeit und mit diesem klassenkämpferischen Duktus bei Allen niemals vorfinden würde.

Neben der Literatur und dem Kino streift In ihrem Haus auch die Bildende Kunst und vor allem das Theater, was daran liegen mag, dass der Film auf dem Bühnenstück El chico de la ultima fila von Juan Mayorga beruht. Dessen Charakter spiegelt sich wider in der Beschränktheit der wenigen Handlungsorte, in den zahlreichen ironischen Brechungen und dem vermeintlich dahinplätschernden Erzählfluss, dessen Dramaturgie jede billige Effekthascherei vermeidet.

Ozons Kühnheit der Konstruktion, seine Entscheidung, den Film als jeweils leicht variierte Abfolge von Ellipsen und Wiederholungen, als Sprechstück mit surrealistischen Einschüben zu erzählen, bremst die zugrunde liegende Emotionalität, die Verzweiflung der Akteure über ihre eigene Verstricktheit aus, hält den Zuschauer ebenso emotional auf Distanz, wie er ihn intellektuell in Geiselhaft nimmt. Vielleicht liegt darin für manchen Zuschauer die einzige Schwäche dieses beglückenden Filmes: In seiner bloßen Behauptung von Gefühlen und in seinem Sarkasmus, mit dem er sich den Emotionen seiner Figuren nähert.

Nachdem Francois Ozons letzte Filme, namentlich Das Schmuckstück / Potiche und die Fabel um das fliegende Baby Ricky — Wunder geschehen / Ricky polarisiert und teilweise auch enttäuscht hatten, markiert In ihrem Haus / Dans la maison eine Rückkehr zu den frühen Werken des Filmemachers. Zugleich ist der Film eine eigenständige Positionierung auf dem derzeit etwas verwaisten Gebiet des elegant-sarkastischen Psychodramas, dessen 2010 verstorbener Meister Claude Chabrol nun einen überaus begabten Nachfolger bekommen hat. Zwar ist zu erwarten, dass Ozon sich bei seinem nächsten Film wieder ein neues Betätigungsfeld aussuchen wird – doch In ihrem Haus deutet die immensen Möglichkeiten an, die immer noch in solchen Filmen liegen. Allein schon deswegen sollte man Ozons neues Werk nicht verpassen, wobei dies keineswegs der einzige und der beste Grund für einen Kinobesuch ist.

Der lässt sich vielmehr auf eine andere, ganz einfache Formel bringen: Solch geist- und trickreiche Unterhaltung mit doppeltem und dreifachem Boden, wie sie Ozon hier präsentiert, ist selten geworden – in der Literatur ebenso wie im Kino. Und im Leben sowieso.

In ihrem Haus

Wie soll man der Schülergeneration von heute noch etwas vom Zauber der Literatur beibringen? Mit dieser Frage sieht sich auch der altgediente Französischlehrer Germain (Fabrice Luchini) konfrontiert, als er lustlos die Aufsätze seiner Schüler durchblättert und darin nichts vorfindet außer maulfaulen Zeugnissen der Langeweile und Abgestumpftheit. Bis er auf das Werk des bislang eher unauffälligen Schülers Claude (großartig: Ernst Umhauer) stößt, das mit einiger Erzählkunst das Interesse des frustrierten Pädagogen erregt.
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Meinungen

Europäer · 31.12.2012

Ich fand den Film sehr gelungen. Eine guter Thriller, mit einer Prise Humor und Ironie. Der Kinosaal war brechend voll, obgleich der Film schon seit fünf Wochen läuft. Das Publikum hat bei zahlreichen Szenen reagiert.

Die Charaktere sind interessant und facettenreich ausgearbeitet, sodass man sich relativ schnell mit ihnen solidarisiert.

Ebenfalls sehr effektvoll gestaltet ist die Hauptfigur Claude. Er ist undurchsichtig und man weiß über weite Strecken nicht, ob seine Aufsätze der Wahrheit entsprechen, oder reine Fiktion sind. Näheres zum Hintergrund der Figur wird erst kurz vor Ende gezeigt.

Meiner Ansicht nach ein sehr empfehlenswerter Film.

Jürgen Häußler · 27.12.2012

Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen langweiligeren Film gesehen zu haben! Spannungsbogen des Films? Fehlanzeige. Die Figuren/Charaktere sind fahl, uninteressant, nichts sagend. Und falls das "neue Wunderkind" des französischen Films" beabsichtigt hat, die Langeweile der Mittelklasse, ihre Bedeutungslosigkeit und ihre fehlende Sinngebung zu skizzieren, dann ist dieser Versuch absolut misslungen. Le cinéma vit!