How to Disappear Completely

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

Mit Dubstep durch den Urwald

Raya Martin lässt sogar Xavier Dolan alt aussehen. Mit nicht mal 30 Jahren hat er bereits elf Spielfilme gedreht und sich zu einem der bekanntesten Filmemacher der Philippinen entwickelt. Sein neuestes Werk How to Disappear Completely wurde sowohl in Locarno als auch beim Filmfest Hamburg aufgeführt.
Vielleicht hat Martins zartes Alter etwas mit der Auswahl seiner Protagonisten zu tun. In How to Disappear Completely steht, wie so oft im Werk des Jungregisseurs, eine Heranwachsende im Mittelpunkt der Geschichte. Das Mädchen lebt mit seinen Eltern abgeschieden inmitten eines wilden Urwalds, in dem – so erzählt eine Legende – die „weiße Frau“ ihr Unwesen treibt. Dieser Geist sucht nach seinem verlorenen Kind und stiehlt sich nur zu gerne ersatzweise den Nachwuchs anderer.

Die „weiße Frau“ ist ein klassisches Horrorelement, das unerwartet und oft nur schemenhaft auftaucht und dem Zuschauer die Nackenhaare aufstellt. Doch der Schockmoment ist sehr dezent. How to Disappear Completely ist kein Film, der sein Publikum durch plötzliche Gruseleinlagen erschrecken will. Stattdessen baut Raya Martin von der ersten Minute an eine dichte, unheilvolle Atmosphäre auf. Wabernde Dubstep-Klänge dröhnen durch den Urwald und lassen die Ereignisse seltsam surreal erscheinen. Musik und Bild mögen so gar nicht zueinander passen und entfalten in der Kombination dennoch eine ungeahnte Sogwirkung, der sich das Publikum nicht entziehen kann. So gelingt es Raya Martin die Aufmerksamkeit des Zuschauers aufrecht zu erhalten. Die fragmentarische Erzählung selbst tritt dabei in den Hintergrund und gibt die Bühne frei für Emotionen und angespannte Nerven.

Doch was hat es mit all dem auf sich? Auf verstörende Art und Weise wirkt die Realität der Heldin nicht weniger unangenehm als die Vorstellung eines bösen Geistes, der ihr Haus umschleicht. Die Mutter ist streng religiös, doch ihre stoischen Gebete wirken enthöhlt und im wahrsten Sinne des Wortes uninspiriert. Als Gegenstück fungiert der trunksüchtige Vater, der von seiner Tochter als Bedrohung wahrgenommen wird. Ohne dies explizit zu zeigen, deutet Raya Martin gewalttätige, vielleicht gar sexuelle Übergriffe auf das Kind an. Auch die letzte Szene des Films, die sich nicht in die Haupthandlung einbetten lässt und die Entführung dreier Schulmädchen zeigt, deutet auf diese Thematik hin.

How to Disappear Completely verhandelt darüber hinaus den Einfluss der westlichen, insbesondere der US-amerikanischen Kultur auf die Traditionen der Philippinen. Aberglaube und Spiritualismus treffen auf die katholische Religion, wobei letztere im schon erwähnten Finale durch eine Gruppe randalierender Jugendlicher quasi demontiert wird. Ein Schultheaterstück erzählt die Geschichte eines Jungen, der grundlos von einem amerikanischen Soldaten auf offener Straße erschossen wird. Vielleicht ist der finale Befreiungsschlag der Heldin gar nicht gegen ihre Eltern, sondern gegen etwas viel Größeres, Allgemeineres gerichtet. Und vielleicht gibt es gar keine „weiße Frau“, sondern nur eine junge Generation junger PhilippinerInnen, die sich mit Gewalt zu den eigenen Wurzeln vorkämpfen.

Doch all das sind lediglich Gedanken, die während How to Disappear Completelyauftauchen und wieder verschwinden, weil es letztlich doch sehr schwierig, vielleicht gar unmöglich ist, die Fragmente dieses Films zu einem logischen Ganzen zusammenzusetzen. Höchst wahrscheinlich ist das aber auch die falsche Herangehensweise. How to Disappear Completely ist eben kein Film, den man verstehen, sondern den man fühlen muss.

How to Disappear Completely

Raya Martin lässt sogar Xavier Dolan alt aussehen. Mit nicht mal 30 Jahren hat er bereits elf Spielfilme gedreht und sich zu einem der bekanntesten Filmemacher der Philippinen entwickelt. Sein neuestes Werk „How to Disappear Completely“ wurde sowohl in Locarno als auch beim Filmfest Hamburg aufgeführt.
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