Herkules

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Gutes Kreuzberg, schlechtes Kreuzberg

“Hundert Kilo hast du früher getragen?!“, fragt Regisseur Volker Meyer-Dabisch, der selbst hinter der Kamera steht und gleich gegenüber in der Wiener Straße wohnt, den Kohlenhändler Ahmed Özdemir. Die Özdemirs aus der Ohlauer Straße waren über 30 Jahre lang eine kleine Institution im Kreuzberger Multikulti-Viertel. Zusammen betrieb die überaus aufgeweckte Familie lange Zeit einen der letzten Läden in der Stadt für Kohlehandel – und manchen Schnaps für zwischendurch. Eher aus Gewohnheit, ja im Grunde auch aus der Perspektivlosigkeit heraus, und weniger um der guten Geschäfte willen: Denn spätestens seit Mitte der 1990er Jahre steigt im wiedervereinigten Berlin der Komfort in zahlreichen Hauptstadtwohnungen – dadurch landeten plötzlich unzählige Kohleöfen auf der Straße und Zentralheizungssysteme fanden reißenden Absatz. Nicht unbedingt, weil das die Mieter so wollten, aber vielfach die Wohnungseigner: Auch diese frühe Gentrifizierungsgeschichte im ehemals legendär kaputten, heute völlig veränderten Kreuzberg erzählt Volker Meyer-Dabischs großartige Langzeitdokumentarstudie (2001 – 2015) Herkules wie nebenbei.
Im Grunde ist hier so vieles nebenbei passiert. Der Aufbruchs- und gleichzeitige Ausbruchsversuch der beiden Söhne, die im Kohlenhandel des Papas längst schon keine reale Berufsoption mehr erkennen: Sie wollen aufs Gymnasium, aber auch ins Freibad, in den Zirkus, einfach mit Freunden abhängen. Oder wie im Falle Oktays sogar berühmt werden: Als Jungschauspieler in der Rolle des aufmüpfigen Erol – an der Seite eines damals blutjungen David Kross – wird er in Detlev Bucks erfolgreichem Jugendfilm Knallhart quasi über Nacht bekannt. Bis heute steht er immer wieder für diverse Kino- und Fernsehfilme (Ein Freund von mir / Vorstadtkrokodile oder Meteorstraße) oder kleine TV-Serien-Rollen (u.a. SOKO Leipzig oder Tatort – Alles hat seinen Preis) vor der Kamera. Er hat seinen ganz eigenen Weg gemacht. Und das gilt im Wesentlichen für alle Familienmitglieder der Özdemirs. Leicht haben und hatten sie es eigentlich noch nie. Das Geld ist knapp, der Handlungsspielraum beschränkt, aber ein grandioser Stehauf-Männchen-Humor ist ihnen allen geblieben: bis heute.

Zwei Hochzeiten, eine Verhaftung und eine Trennung („Ich habe drei Tage, drei Nächte keine Wohnung gehabt … Sie hat mich rausgeschmissen!“) später steht Ahmed, der sich ursprünglich als so genannter „Gastarbeiter“ früh ins damalige West-Berlin aufgemacht hatte, 2015 immer noch in seinem klitzekleinen Straßenlädchen. „Der kam nicht mit Kohle hierüber: Der hat hier die schönen Frauen, die schöne Gegend fotografiert“, erklärt der herrlich sympathische Sohnemann Oktay gegenüber der Kamera – mit Zahnlücken-Lächeln und unnachahmlicher, echter Herzlichkeit im Blick: „Mein Vater ist für mich Herkules irgendwie.“

Ahmed, das schlitzohrige Familienoberhaupt, war nämlich zuerst Fotograf in der Türkei, bis er nach Berlin kam. Später versuchte er sein Glück mit einer Bäckerei, die er kurzfristig aufgemacht hatte. Sie lief nicht, genauso wenig wie eine Mini-Kneipe. Große Pläne hatte er zudem mit Eisverkauf im Sommer („Meinst du, geht? Eis?“) – und parallel natürlich mit dem zumindest bekannten, wenn auch wenig gewinnträchtigen Kohlenhandel im Winter. Trotz mancher Abstürze und umso mehr Neuanfängen, strahlt er bis in die Gegenwart einen unerschütterlichen Optimismus aus, der nur selten von melancholischen Momenten („Ist alle wie Träume. Alles geht so schnell vorbei. Und alles umsonst.“) getrübt wird. Spätestens dann, wenn er wieder in das Gesicht seines überaus smarten Sohnes schaut, der ihn als einer der wenigen aus der mittlerweile ziemlich verstreuten Familienbande noch regelmäßig besucht, glänzen Ahmeds Augen wieder: „Oktays Geburt, glaub’ mir, ist für mich ein Stern vom Himmel gewesen.“ Und die Augen des Zuschauers glänzen gleich mit: Ein echter Herzensfilm, angenehm frei von der ganzen „Yuppie-Scheiße“, wie es draußen auf den Straßengraffitis zu lesen ist.

Herkules

“Hundert Kilo hast du früher getragen?!“, fragt Regisseur Volker Meyer-Dabisch, der selbst hinter der Kamera steht und gleich gegenüber in der Wiener Straße wohnt, den Kohlenhändler Ahmed Özdemir. Die Özdemirs aus der Ohlauer Straße waren über 30 Jahre lang eine kleine Institution im Kreuzberger Multikulti-Viertel.
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