Haymatloz

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Im Osten viel Neues

Historisches Archivmaterial, natürlich in schwarz-weiß, dazu ein Flugzeug und gleißende Techno-Beats und das Ganze höchst rhythmisch montiert (Schnitt: Elisabeth Raßbach) zu Bildern aus der alten wie der neuen Türkei. Auf der Leinwand schimmert die Küste des Bosporus durch, dahinter erscheint eine mächtige Weltstadt: Istanbul. In der Gegenwart längst eine brodelnde Metropole wie ein scheinbar zügelloses Investitionsprojekt für heute über 17 Millionen Einwohner, protegiert wie kontrolliert von ganz oben: Premier Erdogans Regierung mit dem starken Mann an der Spitze.
In den 1930er Jahren sah das an der Grenze vom Orient zum Okzident noch bedeutend anders aus: Ankara war als neue, architektonisch stark erweiterte Hauptstadt unter Kemal Atatürk tonangebend im Lande – und Istanbul nur eine Provinzstadt. Zugleich bildetet sie im Zuge der gewaltigen Bildungsreform unter Atatürks Bildungsminister Hasan Ali Yücel rasch das intellektuelle Zentrum der jungen, im Geiste der demokratischen Moderne konzipierten Republik, die das Osmanische Reich in die Geschichtsbücher verabschiedet hatte.

Hunderte deutscher Geistesgrößen aus Wissenschaft, Kultur und Staatswesen konnten dafür von Atatürk höchstpersönlich als neue akademische Elite des Landes angeheuert werden, prominente Namen wie Bruno Taut, Paul Hindemith oder Ernst Reuter finden sich darunter. Aber natürlich nicht ganz freiwillig, denn im fernen Deutschland hatten gerade die Nationalsozialisten die politische Macht ergriffen – und sofort sämtliche Lehrstuhlinhaber auf ihre völkische Gesinnung sowie ihre Religionszugehörigkeit überprüft. Insbesondere Juden und Linksliberale sollten im Auftrag von Joseph Goebbels schnellstmöglich „ihren Ämtern enthoben werden“, wie das im Nazi-Jargon zynisch hieß. In Wahrheit bedeutete dies für die direkt Betroffenen und somit auch ihre Familien Entsoldung, Berufsverbot – und die reale Gefahr um Leib und Leben.

Rasch folgten auf die plötzlichen Existenzängste konkrete Fluchtpläne und damit wurden sie im Grunde von staatlicher Seite unerwartet zu „Haymatlozen“ gemacht, woher sich auch der Titel des politisch aufklärerischen Dokumentarfilms von Eren Önsöz herleitet. Das ursprünglich deutsche Wort „heimatlos“ wanderte wie die entsprechenden Akademikerfamilien in die Türkei aus und damit die türkische Sprache ein. Es wurde nämlich jedes Mal zu Beginn in die frischen Pässe der emigrierten Neuankömmlinge eingetragen, um anzuzeigen, dass sie aus dem deutschsprachigen Ausland stammten. Diese neuen Gastarbeiter des Geistes wie des Fachwissens wurden im Anschluss prompt in den höchsten Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen installiert – und staatlich hofiert: Mit großen Aufträgen, oftmals unbefristeten Verträgen und einer Reihe staatlicher Privilegien von denen natürlich auch ihre Kinder profitierten. Alleine über eintausend Universitätsprofessoren, Privatdozenten und Assistenten folgten so dem Ruf Kemal Atatürks in die Türkei bis 1945, als deutsche Flüchtlinge massenhaft als Fachkräfte angeworben bzw. eingestellt wurden.

Dieses noch relativ unbekannte Stück deutsch-jüdisch-türkischer Zeitgeschichte hat die Kölner Fernsehjournalistin und Filmemacherin als Hintergrundfolie für ihren zweiten langen Dokumentarfilm Haymatloz gewählt, der jenen historischen Aspekt zum ersten Mal in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit außerhalb von Historikergremien rückt – und im selben Zuge fünf Kinder aus diesen in Deutschland fast schon vergessenen Familien eingehend porträtiert: Klassisch im Bildaufbau, besonnen erzählt auf narrativer Ebene. Dass dabei aber glücklicherweise keine müde Talking-Heads-Collage herausgekommen ist, liegt in erster Linie am souveränen Bild-plus-O-Ton-plus-Musik-Gespür der Regisseurin und ihres kleinen Produktionsteams (Kamera: Andreas Köhler / Musik: Jörg Follert), wodurch nur vereinzelt dramaturgische Längen entstehen.

Vielmehr fasziniert der wechselhafte Lebensweg jener Sprösslinge zwischen zwei Welten und Kulturkreisen, zu denen beispielweise Elisabeth Weber-Belling, die Tochter des berühmten Bildhauers Rudolf Belling, gehört. Durch die Vermittlung Hans Poelzigs konnte der in NS-Deutschland als „entarteter Künstler“ Gebrandmarkte als neuer Ordinarius der Akademie der Bildenden Künste im Orient ein zweites (Berufs-)Leben beginnen. Eren Önsöz begleitete sie – und vier weitere Nachfahren jener „geistigen Gründergeneration“ – zwischen ihrem heutigen Wohnsitz Krailling bei München, wo Bellings künstlerischer Nachlass verwaltet wird, und auf ihrem Weg in die Türkei zu den Spuren ihrer längst vergangenen Kindheit und ihres bekannten Vaters, dessen Denkmäler noch heute die wichtigsten Plätze des Landes zieren.

In dieser quasi „zweiten Heimat“ (Edgar Reitz) haben alle O-Ton-Geber entscheidende Teile ihrer Adoleszenz verbracht: Sie wuchsen dort auf – und zugleich in eine neue Kultur hinein. Ausgehend von den historischen Ereignissen unternimmt Önsöz mit ihren Protagonisten auch eine (Zeit-)Reise von der Schweiz über Deutschland in die Türkei und wieder zurück, wobei auch die jüngsten geschichtlichen Ereignisse unter der Erdogan-Regierung dramaturgisch überzeugend zur Sprache kommen. Ob bei den blutigen Gezi-Park-Protesten oder im selbstherrlichen Machtanspruch des aktuellen Premiers: die Türkei stand und steht seit jeher im geopolitischen Fokus der gesamten (westlichen) Welt. Doch was ist dort 2016 vom radikal reformatorischen, demokratisch geprägten Aufbruchsgeist eines Kemal Atatürk noch geblieben? Wie hätten sich ihre berühmten Väter dazu geäußert, die noch auf Du und Du mit dem Staatsgründer waren – und sich in ihrer Arbeit gerade für offene Werte und künstlerische Freiheit einsetzten?

Die Lebensschicksale von Susan Ferenz-Schwarz, Kurt Heilbronn, Engin Bagda, Enver Hirsch und Elisabeth Weber-Belling befeuern den gegenwärtig auch in Deutschland wieder brisant aufgeladenen Heimat-Diskurs neu – und wunderbar vielschichtig. Denn selbst heute als gut situierte „Weltbürger“ (Goethe) in Zürich, München oder Frankfurt am Main sind einige von ihnen im Herzen immer noch etwas „haymatloz“ geblieben: Bewusst sogar, oft mit Freude verbunden, manchmal aber auch mit leiser Wehmut angesichts des Gedankens an eine scheinbar für immer verloren gegangene „friedlich-offene“ Türkei.

Es ist der Verdienst der Regisseurin wie ihres mehrmals aufrüttelnden Films, diesen Menschen ein kleines dokumentarisches Denkmal gesetzt zu haben, das nachwirkt und zu mehrfacher Betrachtung einlädt. In Zeiten wie diesen, die von Migration und Misstrauen, genauso wie von Erfolgsgeschichten und dem Glauben an echte Völkerverständigung geprägt sind, ist das der einzig richtige Ansatz.

Haymatloz

Historisches Archivmaterial, natürlich in schwarz-weiß, dazu ein Flugzeug und gleißende Techno-Beats und das Ganze höchst rhythmisch montiert (Schnitt: Elisabeth Raßbach) zu Bildern aus der alten wie der neuen Türkei. Auf der Leinwand schimmert die Küste des Bosporus durch, dahinter erscheint eine mächtige Weltstadt: Istanbul.
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