Raw (2016)

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Mit roher Gewalt

Das Aufwachsen als schüchterne Außenseiterin auf dem Internat ist schwer genug, wenn man von den Mitschülern zu grausamen Aufnahmeprüfungen gezwungen wird. Schwieriger wird es, wenn sich dann auch noch eine gefährliche Essgewohnheit entwickelt. Julia Ducournau verbindet in ihrem Debüt Grave (dessen internationaler Titel lautet Raw) die Wirrungen einer Coming-of-Age-Geschichte auf kunstvolle Art mit einer brutalen Genre-Variante.

Sie stammt zwar aus einer Familie strikter Vegetarier, während eines Einführungsrituals auf dem Internat wird Justine (Garance Marillier) jedoch dazu gezwungen, rohes Fleisch zu essen. Kurz darauf entwickelt sie eine gefährliche Vorliebe, die ihr nicht gerade dabei hilft, auf der neuen Schule zurechtzukommen. Immerhin kümmert sich ihre Schwester Alex (Ella Rumpf) um Justine, die in ihrem Mitbewohner Adrien (Rabah Naït Oufella) den einzigen Freund zu finden scheint.

Die ersten Wochen und Monate, nachdem man zum ersten Mal von zu Hause ausgezogen ist, sich in eine neue Umgebung begibt und Familie und Freunde zurücklässt, sind meist nicht leicht und immer wieder Hintergrund für filmische Erzählungen des Aufwachsens. Doch Grave, der auf dem Festival in Toronto zu Ohnmacht im Publikum geführt haben soll, folgt in eigener Weise den üblichen Mustern des Coming-of-Age-Films.

Justines Kannibalismus dient im Film dabei einer Inszenierung des ganz alltäglichen sozialen und institutionellen Drucks, den viele aus ihrer eigenen Erfahrung als Teenager kennen dürften. Auf der neuen Schule, introvertiert und allein, umgeben von Cliquen und Erwartungen, selbst bei den Lehrern aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Leistungen nicht beliebt, gibt Justine zunächst eine typische Figur adoleszenter Verunsicherung ab. Grave inszeniert die Erfahrungen von Ausgrenzung, Einsamkeit und persönlicher Entwicklung jedoch nicht in bewegenden Sequenzen romantischer Sinnsuche, sondern nimmt sie als das ernst, was sie sind: wahrer sozialer Horror.

Dabei gelingt Garance Marillier als Justine die feine Balance zwischen Unsicherheit und Isolation auf der einen Seite und einer Angst vor dem eigenen Körper auf der anderen Seite. Vielleicht gerade weil diese Figur so ungewöhnlich ist und nicht nur unter der Unmöglichkeit leidet dazuzugehören, sondern zugleich unter der inneren Angst ihrer eigenen Veränderung, schafft sie ein umso stärkeres Bild des eigentlich ganz gewöhnlichen Spannungsfeldes. Selten wurde das Erwachsenwerden so berührend und so angemessen verstörend filmisch umgesetzt.

Dass dabei die Gewalt, die der Film zeigt, alle Grenzen des Geschmacks sprengen soll, ist wohl vor allem auch Verkaufsargument. Bedenkt man den Umstand, dass es sich um einen Kannibalen-Film handelt, so hat dieses Genre schon ganz andere Bilder hervorgebracht. Und das ist in Grave auch gar nicht der Punkt: Natürlich schockiert der Film und bricht Tabus — er tut dies aber nicht zum Selbstzweck. Es geht nicht um Kannibalismus und explizite Brutalität. Es geht um eine soziale Brutalität, die der Film erst über schockierende und zutiefst verstörende Bilder greifbar machen kann.

Grave ist sicherlich kein Film für zarte Nerven — doch nur so ist er ein Film, der kein verklärtes Bild jugendlicher Verzweiflung inszeniert, sondern institutionellen Leistungsdruck, soziale Aggression und persönliche Zweifel in der unerträglichen Schrecklichkeit abbildet, die eben auch Teil dieser Lebensphase ist. So unkonventionell er dabei vorgeht, so einzigartig exakt entwirft er ein Bild des Aufwachsens, das selten so eindringlich inszeniert wurde.
 

Raw (2016)

Das Aufwachsen als schüchterne Außenseiterin auf dem Internat ist schwer genug, wenn man von den Mitschülern zu grausamen Aufnahmeprüfungen gezwungen wird. Schwieriger wird es, wenn sich dann auch noch eine gefährliche Essgewohnheit entwickelt.

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