Ghadi

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Warum in die Ferne schweifen, wenn das Öde liegt so nah?

In gewisser Weise ist die libanesische Komödie Ghadi fast ein Beitrag zur Völkerverständigung: Der Film beweist, dass das harmlos-beliebige Arthouse-Kino, über das Senioren in Matinee-Vorstellungen höflich kichern, durchaus einen internationalen, wenn nicht universellen Charakter besitzt.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Leba (Georges Khabbaz, ebenfalls Drehbuchautor des Films) ist Musiklehrer in einer kleinen Küstenstadt. Er hat seine Jugendliebe Lara (Lara Rain) mit seiner Pianokunst für sich erobert und geheiratet – und das trotz kräftiger Konkurrenz durch den gutaussehenden, erfolgreichen Anwalt Gerard (Rodrigue Sleiman). Nach zwei Töchtern gebiert Lara ihm auch endlich den lange herbeigesehnten Sohn, den titelgebenden Ghadi (Emmanuel Khairallah). Doch zu Lebas großem Schrecken muss er feststellen, dass sein Sohn unter einer geistigen Behinderung leidet. In dem eingeschworenen Provinznest ist für solcherlei Abweichungen kein Platz. Spätestens als Ghadi beginnt, laut und unbeherrscht durch das ansonsten eher ruhige Städtchen zu krakeelen, steht für viele Anwohner fest: Der Kleine muss weg, am besten in ein Heim oder eine Anstalt. Leba sieht nur einen nicht unbedingt für jeden naheliegenden Ausweg: Kurzerhand erklärt er Ghadi zu einem Heiligen.

Die Einheimischen sind ohnehin ein recht abergläubisches Völkchen und fürchten sich sogar vor himmlischen Ohrfeigen durch den Geist des örtlichen Schutzpatrons. Mit einer Mischung aus Taschenspielertricks und guter Menschenkenntnis, vor allem aber mit der Hilfe aller, die ansonsten im Ort wenig zu sagen haben, wird der kleine Schreihals in den Augen der Menschen bald ein wahrer Engel. Als solcher wirkt er natürlich auch Wunder und erfüllt Wünsche. Von Geldsorgen bis hin zu verschwundenen Geliebten muss sich Leba nun um die Sorgen seiner Mitmenschen kümmern. Ohne dass sie es merken, versteht sich. Doch wie lange kann er seine sakrale Fassade aufrechterhalten?

Ihren Humor zieht die Komödie von Regisseur Amin Dora vor allem aus den schrulligen Figuren, welche die Stadt bevölkern: Der geizige Friseur, der arrogante Anwalt, der diebische Polizist, die stadtbekannte Prostituierte, der Dorftrottel. Es sind überwiegend alte, abgegriffene Archetypen, die in der Summe eine lebendige Welt ergeben sollen. Leider ist das Ergebnis so organisch wie ein Puppenhaus. Als Vorlage dienen Filme wie Aki Kaurismäkis Le Havre oder Gary Ross‘ Pleasantville — Zu schön, um wahr zu sein. Auch John Michael McDonaghs Am Sonntag bist du tot ist Doras Debütfilm im Bezug auf Schauplatz und Thematik nicht unähnlich. Erst ist da die Gemeinde mit all ihren Problemen, dann brechen Veränderungen über sie herein und am Ende hat man etwas gelernt — im Fall von Ghadi über Toleranz, den Wert des Glaubens und die Heiligkeit des Lebens. Dieses Erzählmuster ist bekannt, Neues gibt es hier nicht zu sehen.

Der Film ist seiner kindlichen Hauptfigur in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich: Beide sind von eher schlichtem Gemüt. Beide können sehr anstrengen, aber wirklich böse sein will man dann doch nicht. Das liegt auch daran, dass Ghadi seinem Publikum immer das wohlige Gefühl gibt, im Recht zu sein. Natürlich ist der schmierige Anwalt Gerard der Böse, wenn er Leba als Betrüger entlarven will. Und wenn der örtliche Polizist stolz verkündet, der Unhold, der immer wieder die Spendenbox plündert, habe das Geld endlich zurückgegeben, dann merkt auch der unaufmerksamste Zuschauer: „Du Schlingel, du hast das Geld doch selber gestohlen!“ Mit dem Wissens- und Intelligenzvorsprung gegenüber den Figuren, die das Drehbuch gewährt, darf sich jeder in seiner gefühlten Überlegenheit bestätigt fühlen.

Und bei all der ostentativen Toleranz ist der Film dann doch sehr konservativ: Der Blick auf die Küstenstadt kommt einer Zeitreise in beschaulichere Zeiten gleich, Nostalgie tropft aus jeder Pore des Films. Auch das alle Frauen entweder Mütter oder Prostituierte sind, könnte man kritisch sehen, zumal Figuren wie Lara unfassbar blass bleiben und Lebas Töchter mehr Dekoration als Menschen sind. Die Krone (oder doch eher die Narrenkappe?) setzt dem Ganzen die krude Anti-Abtreibungs-Botschaft des Films auf. Denn was wäre denn, so fragt der Film, wenn Ghadi nie auf die Welt gekommen wäre? Unabhängig davon, welche Position man bezüglich dieser Thematik einnimmt – so richtig will sich das in die ansonsten eher seichte Komödie nicht einfügen.

Sicher ist die Figur Ghadis auch eine Allegorie für das Kino — hier in seiner Funktion als moralische (und vor allem moralisierende) Instanz. Von der Wohnung des Musiklehrers aus wird er Teil einer Show für die staunend hinaufblickenden Bürger — inklusive Lichteffekte, Kostüme (Ghadi wird mit prachtvollen Engelsflügeln ausgestattet) und einem vom örtlichen Schulchor beigetragenen Soundtrack. Der Junge ist in Lebas Inszenierungen wenig mehr als eine Oberfläche, über die der Musiklehrer seine Botschaften an die Bürger der Stadt verbreiten kann. Das wird nie hinterfragt und nie kritisiert. Dabei wäre es sicher nicht schwer, sich eine Version des Films vorzustellen, in der Leba zum Diktator und Propagandisten wird. Ein Kind mit Behinderung auf diese Weise zu instrumentalisieren, kann man sowohl dem Film als auch dem Protagonisten vorwerfen. Vielleicht mag dem ein oder anderen Cineasten die Vorstellung vom Kino als gottgleichem Verkünder von Wahrheiten gefallen, von einem hohen Maß an Reflexion zeugt sie jedoch nicht.

Handwerklich ist Ghadi so solide wie konventionell: Von den hübschen Bildern und der heiteren Musik fühlen sich Auge und Ohr niemals beleidigt. Die Darsteller geben ihr Bestes, die dünnen Charaktere mit Leben zu füllen, und gelegentlich gelingt das sogar. Bei all der Kritik hat der Film durchaus etwas Charmantes. Als offizieller Oscar-Beitrag des Libanon wäre er unter allerlei lebensbejahenden Prestigeprojekten und Studio-Konsens sicher nicht fehl am Platz. Aus einem der Maschrek-Staaten mal nicht von Krieg und Leid zu hören, sondern einfachen Menschen bei nahezu Alltäglichem beizuwohnen, scheint kurzzeitig fast eine nette Abwechslung. Bis man bemerkt, dass es eben genau das Kino ist, das einen schon aus Deutschland oder Frankreich gelangweilt hat. Und warum in die Ferne schweifen, wenn das Öde liegt so nah?

Ghadi

In gewisser Weise ist die libanesische Komödie „Ghadi“ fast ein Beitrag zur Völkerverständigung: Der Film beweist, dass das harmlos-beliebige Arthouse-Kino, über das Senioren in Matinee-Vorstellungen höflich kichern, durchaus einen internationalen, wenn nicht universellen Charakter besitzt.
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