Gestrandet

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Neuland

Monarchie und Alltag nannte die Band Fehlfarben 1980 ihr heute legendäres Debütalbum, das zu Beginn der Neuen Deutschen Welle der damals bleiernen BRD innenpolitisch den Spiegel vorhielt wie keine andere Platte dieser Zeit. „Bürokratie und Alltag“ hätte nun wiederum Lisei Caspers ihren berührenden Dokumentarfilm Gestrandet nennen können, entstanden just zur Zeit einer ganz anderen neuen deutschen Welle: Einer Welle der Solidarität sowie des persönlichen politischen Engagements vieler Bundesbürger im Umgang mit den Flüchtenden, die seit Monaten nach Europa strömen.
Fünf von ihnen sind in Deutschland gestrandet. Caspers eigener Filmtitel ist durchaus programmatisch zu verstehen, denn anfangs kümmern sich nicht gleich alle Einwohner des 1500-Seelen-Dorfes Strackholt um die neuen Mitbewohner aus Eritrea. Ihnen schlägt durchaus offenes Misstrauen („Vielleicht überfallen die uns!“) entgegen. Auch sind sie selbst noch stark von ihrer ebenso beschwerlichen wie gefährlichen Flucht gezeichnet, manche tragen äußere Verletzungen mit sich. Und wie steht es erst um die innerliche Konstitution von Aman, Osman, Mohammed, Ali und Hassan? Was denken sie im Gegenzug von ihren neuen Gastgebern, die sie erst mal per Berliner Amtsbescheid aufnehmen (müssen)? Die Gesichter dieser Männer sprechen Bände: Wut neben Trauer, Schüchternheit neben Dankbarkeit. Wie soll es einem da auch gehen, nach Flucht, Vertreibung und vielen Abschieden? Dazu noch in dieser ach so sorglosen ostfriesischen Idylle am äußersten Nordwestrand Deutschlands? Stets schwebt zudem in ihren Hinterköpfen das erlebte Grauen in ihrer eritreischen Heimat mit, wo immer noch in brutales, diktatorisches Regime herrscht.

„Ich habe sieben Monate lang keine Sonne gesehen“, sagt der eine. „Einige aus unserer Gruppe haben wir unterwegs beerdigt“, heißt es an anderer Stelle. Es sind gerade diese stillen, emotional durchschüttelnden Momente, die Caspers’ Autorinnenblick für den Zuschauer so fesselnd macht: Sie bewertet nicht, sie zeigt nur – aber wie. Ohne auf die Tränendrüse drücken zu wollen, geschieht es in Gestrandet einfach: es menschelt gewaltig. Und das im positivsten Sinne: Tränen der Freude sind möglich. Denn es gibt unter den Einheimischen auch tatkräftige Helfer wie den pensionierten Pädagogen Helmut Wendt und die engagierte Journalistin Christiane Norda („Christina ist wie eine Mutter für mich“).

Beide Strackholter wollen nicht einfach nur zusehen, wie die fünf jungen afrikanischen Männer quasi von Amtswegen her in ihren Zimmern sitzen müssen. Denn „richtig arbeiten“ dürfen sie nach aktueller Rechtslage in Deutschland nicht. Im Gegenteil: sie sollen zuerst einmal warten – und dann wieder: warten. Zuerst beschaffen sie ihnen daher in der Gemeinde Ein-Euro-Jobs in der „Grünanlagenpflege“, so heißt das wirklich im Reich der braven Paragraphentiger. Zusätzlich können die fünf Afrikaner einigen Gemeindearbeitern vermehrt beim Pflastern helfen. Es läuft also allmählich besser an, auch weil ihnen Helmut zusätzlich kostenlose Deutsch-Intensivkurse gibt.

Christina kümmert sich währenddessen rasch um das weitere Prozedere ihrer offiziellen Asylanträge („In Deutschland ist nichts einfach“), schreibt höchstpersönlich an den Bundespräsidenten im fernen Berlin, um eine zügigere Bearbeitung zu ermöglichen. Doch dann passiert nichts, monatelang. Immer wieder herb-bitter eingefangen von der handwerklich exzellenten Dokumentarfilmkamera Fabian Kleins: Ob beim Boßeln, dem ostfriesischen Nationalsport an der frischen Luft, beim Besuch des örtlichen Hallenbads oder der Eckkneipe im Vereinsheim. Überhaupt ist in Caspers’ insgesamt formidabler, extrem verdichteter Langzeitbeobachtung vor allem eines gelungen: ein echter Einblick in die bedrohlich langsam mahlenden Bürokratiemühlen – willkommen in der Amtsrepublik Deutschland.

Hier werden die Geflohenen trotz aller „Zwangsnettigkeit“ des Bürgermeisters in erster Linie als Kostenstellen gesehen, die lediglich Leistungen beziehen und prinzipiell erst gar nicht richtig Fuß fassen sollen. Auf Caspers Frage hin, ob sich einer der tapferen Fünf eine Rückkehr in die alte Heimat vorstellen könne, erwidert dieser bloß: „Eher würde ich mich umbringen in Deutschland.“ Selbst in den grausigsten O-Tönen bleibt Caspers Blick stets aufrichtig, zum Wohle des Films, der an keiner Stelle in die Klischeefalle abdriftet.

Vielmehr ist er von Beginn an – und nicht nur im Projektansatz spürbar – darum bemüht, einen ehrlich-authentischen Dialog zwischen den Kulturen zu ermöglichen. Dazu gehören natürlich auch Besuche im Tante-Emma-Laden oder auf dem Festplatz, aber Aman, Osman, Mohammed, Ali und Hassan werden hier glücklicherweise niemals vorgeführt.

„Wie’s wirklich in denen aussieht?“, sinniert der örtliche Fußballcoach einmal vor der puristisch eingesetzten Kamera. Dann schweigt er kurz – und setzt wieder an: „Das wissen wir nicht.“ Stimmt, aber die Zuschauer wissen nach Caspers’ Film umso mehr: Mitanpacken wäre jederzeit möglich. Denn für die Suche nach einem gemeinsamen Dialog ist es nie zu spät, Sprachbarrieren hin oder her. So ist Lisei Caspers’ Film am Ende deutlich mehr als eine lediglich brutal-ehrliche Bestandsaufnahme gegenwärtiger Asylpolitik in Deutschland: Er ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit in der jeweils nächsten Umgebung. Mehr kann ein politischer Dokumentarfilm gar nicht leisten.

Gestrandet

„Monarchie und Alltag“ nannte die Band Fehlfarben 1980 ihr heute legendäres Debütalbum, das zu Beginn der Neuen Deutschen Welle der damals bleiernen BRD innenpolitisch den Spiegel vorhielt wie keine andere Platte dieser Zeit. „Bürokratie und Alltag“ hätte nun wiederum Lisei Caspers ihren berührenden Dokumentarfilm „Gestrandet“ nennen können, entstanden just zur Zeit einer ganz anderen neuen deutschen Welle: Einer Welle der Solidarität sowie des persönlichen politischen Engagements vieler Bundesbürger im Umgang mit den Flüchtenden, die seit Monaten nach Europa strömen.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen