Gemma Bovery (2014)

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Der Dorfbäcker und die Madame Bovary

Es macht nichts, wenn man Flaubert nicht gelesen hat. Man muss seine Madame Bovary nicht kennen, bevor man Bekanntschaft mit Gemma Bovery macht. Klar, man hat ein Stück Weltliteratur verpasst, aber Berührungsängste mit diesem Film muss man deswegen nicht haben. Zumal der Film auch gar keine Literatur-, sondern eine Comicverfilmung ist. Gemma Bovery ist eine Graphic Novel von Posy Simmonds. Die englische Comic-Künstlerin bediente sich dafür kurzerhand beim französischen Romancier aus dem 19. Jahrhundert. Sie entlieh Hauptfigur und Handlung, um daraus eine zeitgenössische, anspielungsreiche Geschichte über Ehebruch und seine Folgen, Faszination und Manipulation, Träume und Lebenslügen zu zeichnen.

Die französische Regisseurin Anne Fontaine (Coco Chanel — Der Beginn einer Leidenschaft, Tage am Strand) wiederum bediente sich bei Posy Simmonds, deren andere Graphic Novel Tamara Drewe auch schon den Weg auf die Leinwand gefunden hat – unter der Regie von Stephen Frears und mit dem deutschen Titel Immer Drama um Tamara. Die Hauptrolle spielte dort die Schauspielerin Gemma Arterton.

Nun ist Gemma Arterton Gemma Bovery. Eine perfekte Besetzung für den Part der verführerischen jungen Städterin aus England, die mit neuem Mann ein anderes Leben in der französischen Provinz sucht. Und die in dem kleinen Ort in der Normandie sofort die Fantasie des Dorfbäckers anheizt. Denn Martin, den es aus Paris zurück in das väterliche Bäckerei-Geschäft verschlug, hat Flaubert wirklich gelesen. Und dessen Madame Bovary hat er wahrlich verinnerlicht. Er schwärmt für dieses Buch – und nun beginnt er für die neue Nachbarin zu schwärmen. Allein schon der Name Bovary/ Bovery! Wenn das kein Zeichen ist! Der vom Dorfleben gelangweilte Ex-Bohemien ist Feuer und Flamme und beginnt Flauberts Beschreibung einer das außereheliche Abenteuer suchenden Frau auf die junge Engländerin zu projizieren. Ein teilnehmender Voyeur, durch dessen Augen der Zuschauer sieht. Ein etwas verklemmter Phantast, dessen erwartungsvoll strahlende blaue Augen das Objekt seiner Fantasie verfolgen, dessen Stimme den Film erzählt, dessen Blickwinkel zur Filmrealität wird.

Dieser Part des verhinderten Künstlers ist perfekt besetzt mit Fabrice Luchini. Man kennt ihn aus französischen Komödien wie Das Schmuckstück, Nur für Personal, oder Molière auf dem Fahrrad, aber wirklich sympathisch wirkt er eigentlich nie. Auch in Gemma Bovery nicht – und das ist in diesem Fall genau richtig. Sein Martin steht im Zentrum des Films und dirigiert die Handlung regelrecht von innen heraus – schließlich hat er sich in die Idee verrannt, dass Flauberts Madame Bovary die Blaupause für das Treiben um ihn herum ist. Er betreibt eine regelrechte Romantisierung der Realität. Und wenn der Gang der Dinge für seinen Geschmack gerade zu wenig der Handlung des Romans entspricht, dann hintertreibt er wo er kann, um die Realität dem Ideal des Romans anzunähern. Allerdings, als er Rattengift im Haus der Boverys findet, bekommt er doch ein wenig Panik: Ist Madame Bovary nicht an Rattengift gestorben?

Der klassische Flaubert ist auf wirklich köstlichste Weise in Gemma Bovery eingewirkt, wie in einen normannischen Hefezopf. Kraftvoll durchgeknetet und kunstvoll verflochten. Serviert mit viel Ironie und erzählerischem Esprit, erstklassiger Kameraarbeit und einem Score, der dieses vielschichtige und rundum unterhaltsame Werk nicht überzuckert. Ein Film, der reich an komplexen Anspielungen ist zwischen Literatur und Leben, zwischen Roman und Romantisierung, zwischen Literaturvorlage und Filmscript, und der doch ganz leicht daherkommt. Der immer wieder gezielt zu Klischees greift, um diese dann meisterlich auszukosten: Die Erotik des Teigknetens. Die Sinnlichkeit ihrer Lippen an seinen Backwaren. Die Ausstrahlung von Gemma überflutet förmlich die Leinwand. Es ist wirklich eine Lust, die Welt mit Martins Augen zu sehen.

Jetzt gilt es nur noch eines zu hoffen: dass auch die deutsche Synchronisation gelingt. Denn ein Teil des Charmes von Gemma Bovery liegt auch im Aufeinandertreffen von Engländern und Franzosen in diesem kleinen normannischen Dorf. Es herrscht ganz selbstverständlich Sprachen- und Akzentgetümmel. In der Synchronfassung werden aber sicher alle einfach Deutsch miteinander reden …
 

Gemma Bovery (2014)

Es macht nichts, wenn man Flaubert nicht gelesen hat. Man muss seine „Madame Bovary“ nicht kennen, bevor man Bekanntschaft mit „Gemma Bovery“ macht. Klar, man hat ein Stück Weltliteratur verpasst, aber Berührungsängste mit diesem Film muss man deswegen nicht haben. Zumal der Film auch gar keine Literatur-, sondern eine Comicverfilmung ist.

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Meinungen

Martin Zopick · 31.07.2019

Dass eine Graphic Novel die Vorlage für diese Film sein soll, merkt man ihm nicht an. Zu geistreich und zu amüsant kommt der Plot daher und der Gipfel ist das wunderbare Ende, das den Genießer geistreicher Pointen mit der Zunge schnalzen lässt und dazu noch ein hoch erfreutes, zufriedenes Schmunzeln hervorruft.
Regisseurin Anne Fontaine lässt das Ensemble subtil agieren. Allen voran die Titelfigur Gemma Arterton. (Vorname Zufall?). Aber auch der verliebte Bäcker Martin (Fabrice Luchini), ein Künstler seines Fachs, trägt viel zum Gelingen des Films bei.
Die Grundidee ist die Frage: kann Literatur ein Abbild bzw. Vorbild der Realität sein?
Martin kennt den Roman von Flaubert und das Ende von Madame Bovary. Er tut alles, um das zu verhindern. Es wird schwer, wenn man bedenkt, dass die Schöne außer dem Bäcker, der sie als Nachbar anhimmelt noch drei weitere Liebhaber hat: ihren Ehemann Charlie (Jason Flemyng) und den adeligen Hervé (Niels Schneider), den Martin durch einen Fake Brief außer Gefecht setzt und ihren Ex Patrick (Mel Raido).
Das Geniale ist aber Gemmas Ende, an dem alle drei irgendwie beteiligt sind, ohne dass ihnen ein schuldhaftes Verhalten zur Last gelegt werden kann. Das ist großartig eingefädelt. Martin, Charlie und Patrick stehen an Gemmas Grab: schuldlos schuldig. Flaubert Kenner haben sich schon über die Schreibweise des Namens von Madame gewundert: e statt a ? Und dann erklärt das Martins Sohn, wenn er die neuen Nachbarn einführt. Die heißen Karinina! Hier grinsen Tolstoi Kenner erneut. Hieß die Anna K., die sich aus Liebeskummer vor den Zug geworfen hatte nicht Karenina? Auch Martin ist verblüfft, dass die Neuen so akzentfrei Französisch sprechen…
Nicht nur nett, sondern auch genial und Gemma macht wieder ganz schön Drama, wie damals um Tamara.