Woyzeck

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

Georg Büchner im Berliner Wedding

Wir alle kennen die Geschichte von Woyzeck, einem Mann der Unterschicht, der durch seine Not in den Wahnsinn und zu dem Mord an seiner Geliebten Marie getrieben wird. Einst von Georg Büchner als Theaterstück verfasst, wurde diese Geschichte schon mehrfach für die Leinwand adaptiert, unter anderem von Werner Herzog mit Klaus Kinski und Eva Mattes in den Hauptrollen. Rechtzeitig zum 200. Geburtstag Büchners im Oktober 2013 wagt Regisseur Nuran David Calis nun eine moderne filmische Inszenierung des Stoffes.
Woyzeck, nun gespielt von Tom Schilling, lebt im Berliner Wedding mit seiner Freundin Marie (Nora von Waldstätten) und dem unehelichen Kind in – wie wir heute sagen – prekären Lebensverhältnissen. Um den Lebensunterhalt seiner kleinen Familie zu sichern, hat der junge Mann gleich drei Jobs angenommen. Nachts reinigt er mit seinen Kollegen Andres (Christoph Franken) und Louis (Markus Tomczyk) die U-Bahn Tunnel der Stadt, am Tage arbeitet er als Küchenhilfe. Weil dies immer noch nicht ausreicht, um sich den Traum vom eigenen Haus auf dem Land zu erfüllen, nimmt er zudem an einer illegalen Medikamentenstudie teil. Doch die Nebenwirkungen sind verheerend. Woyzeck ist schlaflos, beginnt Stimmen zu hören und verliert immer mehr den Kontakt zur Realität. Gleichzeitig erliegt Marie dem Werben des Tambourmajors, hier ein arabischer Zuhälter, gespielt von Simon Kirsch. Dass Wissen um diese Affäre treibt Woyzeck immer mehr in die Enge, bis ihm der Mord an Marie als einziger Ausweg erscheint.

Nuran David Calis inszeniert seinen Woyzeck im Berliner Wedding, ohne dass dieser Bezirk jedoch als solcher deutlich zu erkennen wäre. Vielmehr könnte sich die Geschichte in einem beliebigen Problembezirk einer deutschen Großstadt abspielen. Statt der Erbsendiät greift Woyzeck zu ominösen Pillen und der einstige Hauptmann ist zum arabischen Restaurantbesitzer (Georgios Tsivanoglou) geworden, der seinen Angestellten moralisch unter Druck setzt. Dass Woyzecks finanzielle Probleme vor allem durch die Migranten in seinem Kiez entstehen – sein deutsches Restaurant musste schließen, denn wer isst in diesem Viertel noch Schnitzel – begründete der Regisseur bei der Berliner Premiere damit, dass er seine Hauptfigur als eine Minderheit in der Minderheit darstellen wolle. Doch die bei Büchner schon recht eindimensional angelegten Charaktere des Hauptmanns und Tambourmajors wirken in der Übersetzung in die Berliner Multi-Kulti-Gesellschaft fast wie bösartige Klischees. Woyzecks Peinigern wird keinerlei Persönlichkeit zugesprochen. Sie bleiben bloße Typen, deren einzige Absicht das Quälen des Protagonisten zu sein scheint. Zumindest ist dies die Wahrnehmung Woyzecks. Da wir jedoch als Zuschauer den Film gänzlich aus seiner Perspektive erleben, haben auch wir den Eindruck, dass sowohl der deutsche Arzt, als auch die beiden arabischen Männer irgendwie unter eine Decke stecken. Diese einseitige Sichtweise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im Berliner Wedding ist durchaus kritikwürdig, verhindert sie doch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Problemen eines solchen Kiezes.

Woyzeck selbst erscheint als Opfer seiner Umstände. Zwar erleben wir ihn als labilen, von Freunden und der Familie entfremdeten Mann, doch führen wir seine geistige Abwesenheit umgehend auf die Tabletteneinnahme zurück. So bleibt auch Woyzeck selbst schwer zu fassen. Im Grunde ist es lediglich Marie, die Identifikation und Einfühlung ermöglicht. Hin- und hergerissen zwischen der aufrichtigen Liebe zu ihrem Partner und den finanziellen Verlockungen des Tambourmajors, entsteht für die junge Mutter eine Notsituation, die wir nachvollziehen können.

Es sind vor allem die Geräusche, mit denen uns Nuran David Calis Woyzecks Lebensrealität nahe bringt. Es dröhnt, kreischt und flüstert derart, dass wir als Zuschauer ebenfalls an den Rand des Erträglichen gebracht werden. Auch die teils surrealen Bilder verdeutlichen uns Woyzecks Wahrnehmung. Nuran David Calis Woyzeck ist ein echter Psychotrip, innerhalb dessen die Entwicklung des Protagonisten als die einzig logische Konsequenz erscheint.

Tom Schilling steht die hilflose Leidensmiene gut, dennoch können wir ihm den einfachen Mann am Boden der Gesellschaft nicht so recht abnehmen. Es ist die gewählte Sprache, die das Bild vom Berlin Ghetto-Dasein immer wieder durchbricht. Sowohl die deutschen, als auch die arabischen Hauptfiguren sprechen ein fehlerfreies, wohl akzentuiertes Hochdeutsch. So wirkt Woyzeck trotz der filmischen Umsetzung vor allem theatralisch.

Mit Sicherheit ist die Handlung von Woyzeck aufgrund der sich stetig vergrößernden Schere zwischen Arm und Reich noch immer aktuell. Doch sind die Ursachen für die Not eines in der Weise benachteiligten Menschen um einiges komplexer, als sie in Nuran David Calis’ Adaption dargestellt werden. Sein Woyzeck wirkt plakativ und ermöglicht im Grunde kein echtes Verständnis der gezeigten Missstände. Zudem droht er Vorurteile gegenüber der arabischen Bevölkerung in Deutschland zu bestärken. Nuran David Calis hat sicherlich recht, wenn er meint, Büchners Geschichte könne sich auch im heutigen Berliner Wedding abspielen. Doch wenn er schon auf die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit hinweisen möchte, wäre eine differenziertere Herangehensweise definitiv wünschenswert.

Woyzeck

Wir alle kennen die Geschichte von Woyzeck, einem Mann der Unterschicht, der durch seine Not in den Wahnsinn und zu dem Mord an seiner Geliebten Marie getrieben wird. Einst von Georg Büchner als Theaterstück verfasst, wurde diese Geschichte schon mehrfach für die Leinwand adaptiert, unter anderem von Werner Herzog mit Klaus Kinski und Eva Mattes in den Hauptrollen. Rechtzeitig zum 200. Geburtstag Büchners im Oktober 2013 wagt Regisseur Nuran David Calis nun eine moderne filmische Inszenierung des Stoffes.
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Meinungen

Christian Milz · 25.08.2023

Wir alle kennen Büchners Woyzeck-Geschichte überhaupt nicht. Büchner hat sich ein anspruchsvolleres Publikum vorgestellt, als wir es sind. Es wäre nie auf die Idee gekommen, einen Mord an der Geliebten durch unbewältigte soziale Demontage ethisch zu rechtfertigen. Das Drama hat einen doppelten Boden, wie alle wirklich guten Geschichten (Reich-Ranicki). Man schaue sich einmal die drei Szenen Messerkauf, Marie allein und die anschließende, in der Woyzeck sein Testament, macht an. Marie ruft diesen Satz aus: "Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz." Warum wohl dieser exponierte Satz? Wer wird stechen und kauft ein Messer und spricht dann von seiner Mutter? Wessen innere Stimme verlangt, die Geliebte zue erstechen? Warum wohl? Mitdenken! Das passt dann auch zu der Märchenparabel. Aber lieber 'eyes wide shut'. Und noch was: Der Narr weiß alles: "Blutwurst sagt, komm Leberwurst", sagt er voraus. Blutwirst = Woyzeck, Leberwurst = Kind Christian. Es gibt keinen sinnlosen Satz in dem Fragment. Wenn Woyzeck gleichzeitig Kind und Vater ist, dann wird auch klar, warum er psychisch so am Ende ist. Unter Christisan Milz /Woyzeck gibt es weitere Aufschlüsse und ein Buch.