Wo ich wohne - Ein Film für Ilse Aichinger

Eine Filmkritik von Benjamin Wirtz

"Ich wollte immer verschwinden"

Christine Nagels Wo ich wohne — Ein Film für Ilse Aichinger ist ein ruhiges und unkonventionelles Werk. Der Film ist (zumindest im herkömmlichen Sinne) keine Biographie und kein Porträt von Ilse Aichinger, er zeichnet nicht ihr Leben nach und führt dem Zuschauer auch nicht ausschließlich die Bedeutung ihres Werks vor Augen. Er ist – wie der Titel schon sagt – eine Hommage an die Person Ilse Aichinger und an ihre Werke. Gleichzeitig, auch weil Aichinger ihr Leben lang eine Filmliebhaberin war, ist er zudem eine Hommage an das Medium Film selbst.
Christine Nagel führt in ihrem Film viele verschiedene Dinge zusammen. Durch den ganzen Film zieht sich die fiktionale Verfilmung von Aichingers abstrakter und surrealer Kurzgeschichte Wo ich wohne, die die Regisseurin auf gelungene Weise in filmische Bilder überträgt und dabei Passagen aus der Geschichte – allerdings in veränderter Chronologie – über die Bilder lesen lässt. Die Kurzgeschichte handelt von einer Frau, deren Wohnung sich plötzlich immer wieder ein Stockwerk tiefer befindet, ohne dass es einer der Anwohner bemerkt. Die Frau traut sich nicht, diese Tatsache anzusprechen, weil man sie für verrückt halten könnte. So wohnt sie immer tiefer, bis sie eines Tages im Keller lebt. Die Verfilmung dieser kafkaesken Geschichte verbindet Christine Nagel immer wieder mit Zitaten und Gedichten Aichingers und mit Super-8-Filmaufnahmen, die Aichinger selbst in den 1960er und 70er Jahren gemacht hat.

Ein großer Teil des Films beschäftigt sich auch mit Aichingers Beziehung zu ihrer Schwester Helga. Durch den Holocaust wurden sie getrennt, Ilse blieb in Wien, Helga konnte mit einem Kindertransport nach London gelangen. Der Film liefert keine biographischen Fakten, sondern setzt deren Kenntnis voraus. Dem unwissenden Zuschauer wird die Situation der Schwestern erst durch vorgetragene Briefe von damals und durch Interviews mit Helga deutlich.

Zitate von Aichinger, die vor allem im Gedächtnis bleiben, sind solche wie: „Ich bin schon als kleines Kind auf die Idee gekommen, dass ich nicht auf dieser Welt sein will. Ich wollte immer verschwinden“ und „Verschwinden ist für mich, nie da gewesen zu sein. Nicht einmal gedacht“ – sie klingen nicht gerade nach lebensbejahenden und positiven Aussagen. Doch hieraus spricht keine Todessehnsucht, sondern – wie Aichinger es sagt – einfach „nicht der Ehrgeiz zu existieren“. Der Film versucht, diese Haltung auch in die äußere Form einzubringen. Aichingers zentralem Wunsch, zu verschwinden, kommt er nach, indem sie selbst kaum im Film vorkommt. Nur wenige Male sieht man sie in alten Aufnahmen eines Fernsehinterviews oder auf Fotos. Ansonsten ist mehrmals ihre Stimme zu hören.

Es liegt also an Christine Nagel, Aichingers Stimme die passenden Bilder zur Seite zu stellen, die ihr Lebensgefühl widerspiegeln und ihre Aussagen gebührend begleiten. Leider gibt es manche Stellen, in denen das nicht besonders gut gelingt. Die Aufnahme einer Straßenbahnfahrt von innen, die auch noch lange nach dem Verstummen des Tons fortgeführt wird, ist mittlerweile abgenutzt. Zu oft wurden solche Bilder in Filmen schon überstrapaziert, sodass sie ohne neue Ideen keine wirkliche Spannung halten können. An anderen Stellen jedoch hat Christine Nagel brillante und innovative Einfälle. Sie findet oft passende Bilder, die sie aber nicht auf plakative Weise parallel zum Ton präsentiert, sondern erst mit einiger Verzögerung zeigt. So kommen die zuvor gesagten Zitate dem Zuschauer noch einmal in den Sinn, ohne dass dies zu einer Wiederholung führen würde. Einige Male findet die Regisseurin auch metaphorische und allegorische Bilder als Ergänzung zu ihrer Verfilmung der Kurzgeschichte Wo ich wohne.

Wo ich wohne — Ein Film für Ilse Aichinger bleibt die ganze Zeit über unaufdringlich. Er begegnet der Person Ilse Aichingers mit Respekt, aber ohne übertriebene Euphorie. Durch die Verbindung der Bilder mit der Sprache Aichingers werden dem Zuschauer die Texte und die Poesie der Autorin nochmal auf ganz neue Art und Weise erfahrbar gemacht.

Wo ich wohne - Ein Film für Ilse Aichinger

Christine Nagels „Wo ich wohne. Ein Film für Ilse Aichinger“ ist ein ruhiges und unkonventionelles Werk. Der Film ist (zumindest im herkömmlichen Sinne) keine Biographie und kein Porträt von Ilse Aichinger, er zeichnet nicht ihr Leben nach und führt dem Zuschauer auch nicht ausschließlich die Bedeutung ihres Werks vor Augen. Er ist – wie der Titel schon sagt – eine Hommage an die Person Ilse Aichinger und an ihre Werke.
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