Wir töten Stella (2017)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Die Schuld und der Riss

Eine junge, fremde Frau im Familienhaushalt; eine Störung des Gleichgewichts; der Lauf des Schicksals; die Frage, was man hätte aufhalten können und sollen. Julian Pölsler verfilmt mit Wir töten Stella nach Die Wand erneut eine Vorlage von Marlen Haushofer, eine Novelle um eine Frau, ihren Mann und die Tochter einer Bekannten, die schließlich nicht mehr sein wird.

Zwei Zeitebenen werden rasch etabliert: Das Geschehen und seine Reflexion. Das Nachdenken über das Geschehene – in Bildern kontrastloser Einsamkeit, in Bildern des Erinnerns und Aufschreibens aufgefangen, auf der Tonspur durch die Rezitation der originalen Haushofer-Worte wie in einem Stream of Consciousness aufgelöst. Und auf der Geschehens-Ebene ein fatales Familiendrama, in dem sich eine Familie längst schon verloren hat, was sich durch den neuen, jungen, schüchternen Gast manifestiert.

„Tschuldigung, störe ich“ – Stellas ständige Frage, wenn sie den Raum betritt. „Nein, Stella, Sie stören nicht“ – Annas ständige Antwort, konterkariert von dem Voice-over, das die (Zer)Störung des Gleichgewichts beklagt. Man siezt sich, höflich distanziert, aber stets freundlich. Man versichert sich abends des Wissens um die unangenehme Situation. Man versucht, so etwas wie Alltag zuzulassen, weiterzumachen. Man weiß alles und tut nichts. Anna ist verstört, Martina Gedeck spielt sie mit dem leeren Gesicht, das sie so gut kann, das den Film trägt: Sie steht im Mittelpunkt, ihre Gedanken und Gefühle, aufgewirbelt durch Stella. Ziemlich am Anfang sehen wir die tote junge Frau im Leichenschauhaus, schön sieht sie aus. Aber nur von der einen Seite – die andere Gesichtshälfte ist zermatscht. In der Unschärfe: Stella im roten Kleid. Dahinter der gelbe Lastwagen … Das ist die Schuld und der Riss in Annas Seele.

Pölsler inszeniert sehr überlegt eine kleine Geschichte, ausgebreitet als Balance aus Güte und Fehlverhalten, dargestellt in leichter künstlicher Überhöhung: Mit ausgeklügelter Farbdramaturgie, mit detaillierten Akzentsetzungen, in einer luftigen Leichtigkeit des Gedankens und Gedenkens, die das, was passiert, umso größer und schwerer macht. Einsamkeit, Pflicht, Gefangenheit im Leben: Pölsler erzählt von Midlife-Depression, folgt darin Haushofer, die von der Krise der Familie, der Krise der Identität, des Charakters erzählt – bei Anna, bei ihrem Mann, beim Sohn. Wir töten Stella wirkt dabei wie der Link zwischen Die Wand – nicht nur wegen der gemeinsamen Hauptdarstellerin der beiden Filme, auch, weil Anna hier des nachts in einem Flucht-Traum auf eine unsichtbare Wand stößt – und Hanekes Welt der kalten Entfremdung; ziemlich explizit wird darauf verwiesen bei Wolfgang, dem Teenager-Sohn, und seiner Obsession heimlicher Beobachtungen per Handyvideo.

Ganz subjektiv wird zugleich mit dem inneren Drama von Anna das Drama um Ehemann Richard und Studentin Stella erzählt, von Macht, von Sex, von Konsequenzen, die eine zarte Seele zerbrechen können; die einen in den selbstgewählten Tod treiben können. Die Affäre der beiden ist schön subtil eingebracht, halb Halluzination, halb real, Möglichkeit und Verdacht und gleichzeitig Tatsache und Schicksal.

Wir töten Stella ist sauber konstruiert, die Charaktere werden allesamt perfekt dargestellt – ganz wortkarg: Matthias Brandt als Ehemann, still leidend Mala Emde als Stella; doch irgendwie will etwas nicht ganz passen: Vermutlich die Form, die den Film ins Heute setzt, und der Inhalt, der aus der Moral und dem Denken der 1950er Jahre stammt. Pölsler unterlässt es bewusst, die Erzählung von 1958 zu aktualisieren, bringt aber die Bilder von heute. Durch die Diskrepanz von Geschehen und Spielzeit ergibt sich ein Loch im Erzählten: Weil die Normen von damals so dominant sind in Annas Denken, die Figur doch als heutig erzählt, wirkt sie ungewollt geistig überkandidelt. Dass eine Frau heute, die alleine zu Hause sitzt, die sich gezwungen sieht, monatelang eine junge Studentin zu siezen, die nichts zu tun hat außer Kakteen zu gießen, depressiv wird – dazu braucht es keinen Lastwagen und keinen Tod.
 

Wir töten Stella (2017)

Eine junge, fremde Frau im Familienhaushalt; eine Störung des Gleichgewichts; der Lauf des Schicksals; die Frage, was man hätte aufhalten können und sollen. Julian Pölsler verfilmt mit „Wir töten Stella“ nach „Die Wand“ erneut eine Vorlage von Marlen Haushofer, eine Novelle um eine Frau, ihren Mann und die Tochter einer Bekannten, die schließlich nicht mehr sein wird.

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Meinungen

Phil · 13.11.2017

DIE WAND fand ich noch einen Tick packender. Trotzdem ein sehr guter Film.