Winternomaden

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Draußen mit den Schafen

Welcher gestresste Städter hat sich nicht schon mal aus dem Hamsterrad des Jobs hinaus auf eine ruhige Schafweide geträumt? Die Schafe grasen friedlich, die Hütehunde tollen herum, ein laues Sommerlüftchen weht einem um die Nase. Ein schöner Traum. Das wahre Schäfer-Leben jenseits solcher Schwärmereien ist eher nichts für Weicheier. Es findet auch bei Regen, Kälte und Schnee im Winter statt – und übt eine ganz eigene Faszination aus.
Pascal ist Mitte 50 und zieht seit 33 Jahren in den Wintermonaten als Wanderhirte durch die Westschweiz. Carole ist halb so alt wie er und erst seit kurzem dabei. 2 Menschen, 3 Esel, 4 Hunde und 800 Schafe. Gemeinsam legen sie in 4 Monaten über 600 Kilometer zurück. „Transhumanz“ nennt sich diese eindrucksvolle Unternehmung, die der Dokumentarfilm Winternomaden begleitet. Schon während der Vorbereitungsphase des Filmprojekts hat Regisseur Manuel von Stürler eine komplette Wanderung mit Schafherde und Hirten mitgemacht. Das Vertrauen, das seine Protagonisten in dieser Zeit zu ihm aufgebaut haben, ist in den ruhig beobachtenden Bildern spürbar. Ebenso das Wissen des Filmemachers darum, was einen solchen Trek in der Essenz ausmacht. So lässt der Film mit respektvoller Zurückhaltung und gleichzeitig mit großer Nähe den Zuschauer am abenteuerlichen Arbeitsalltag von Pascal und Carole teilhaben.

Bei der Transhumanz leben die beiden ein archaisches Nomadenleben, während sie durch die moderne Schweiz ziehen. Das ist weit entfernt von jener Art modischem Abenteuer-Trekking, zu dem zivilisationsmüde Städter gerne bis in den Himalaya jetten, um 14 Tage lang die neueste Outdoor-Funktions-Mode und High-Tech-Ausrüstung spazieren zu tragen. Das Schafehüten direkt vor der Haustür entpuppt sich als wahres Abenteuer für echte Natur-Burschen und Mädchen. Statt Windstopper, Gore-Tex und 4-Fach-Membran gibt es ein paar Lagen Wolle und Wollfilz gegen Kälte und Wind. Gegen Nässe helfen gute alte Gummihosen und Regencapes. Rund um die Uhr sind Pascal und Carole den unwirtlichsten Witterungen ausgesetzt. Ihre Hände – oft genug unbehandschuht, denn es muss ja ständig etwas angepackt werden – sprechen Bände.

Schafe hüten an sich kann auch bei Minusgraden recht schweißtreibend sein. 800 Tiere wollen erst mal in eine Richtung gelotst werden. Carole geht voraus und verfüttert Brot an die Leitschafe, die anderen folgen – mehr oder weniger. Am Ende der imposanten Karawane überwacht und korrigiert Pascal das turbulente Geschehen. Irgendwo dazwischen trotten die schwer beladenen Esel und die Hunde springen überall herum. Wenn das Chaos ausartet, wird der stille Pascal laut und brüllt Anweisungen und Zurechtweisungen in Richtung Carole. Ansonsten wirken die beiden wie ein eingespieltes Team. Über lange Zeit hält der Film in der Schwebe, in welcher Beziehung die beiden zueinander stehen. Mal wirken sie wie Vater und Tochter, dann wieder vertraut wie ein Paar. Zwei starke Charaktere, sehr bewusst in dem, was sie tun. Zwei sympathische Protagonisten, die in sich ruhen, nicht viele Worte machen und mit ihren Persönlichkeiten in ihren Bann ziehen.

Doch Winternomaden erzählt nicht nur davon, wie (und warum) zwei Menschen im Rhythmus der Natur mit den Tieren ihren Weg gehen. Quasi im Vorübergehen erzählt sich noch ein ganz anderes Drama: das der Zersiedelung ganzer Landstriche. Wo im letzten Winter noch Wiese war, versperrt jetzt ein Neubaugebiet den Weg. Schnellstraßen zerschneiden die Landschaft. Bauern wollen nicht, dass die Schafe über ihren Winterklee trampeln. Die Transhumanz wird Jahr für Jahr mehr zum Hindernislauf. Der Film findet bestechende Bilder für dieses unmittelbare Nebeneinander von Tradition und Fortschritt. Etwa, wenn Pascal und Carole mit den Eseln unter den Betonpfeilern der Autobahn Rast machen, oder die Schaf-Kolonne parallel zur Schnellstraße dahin trottet.

Ein Mal die Woche kommt der Schafbesitzer mit seinem Allrad getriebenen SUV und Anhänger angefahren und entführt die fettesten Schafe zum Schlachter. Von Lammkeule können Pascal und Carole nur träumen. Manchmal bringt ein Bauer ihnen ein warmes Essen vorbei, aber Pascal schnibbelt sich auch gerne nur ein Stück eiskalte Wurst zur Vesper herunter. Gelagert wird am Waldrand, unter einer aufgespannten Plane, lediglich ein paar Schaffelle schützen vor der Kälte der Nacht. Ein hartes Leben auf Zeit, das dem Menschen (und auch den Tieren) einiges abverlangt, aber trotz seiner Härte einen ganz eigenen Zauber entfaltet.

Winternomaden fängt diesen Zauber filmisch mit eindrucksvollen Bildern und viel Atmosphäre ein. Eine sehr zurückgenommene Filmmusik setzt einige Akzente, ansonsten vertraut Manuel von Stürler auf den Originalton. So ist sein Film weit davon entfernt, eine gefühlige Glorifizierung des Hirtenlebens zu sein. Vielmehr ist dem Regisseur mit seinem Debütfilm ein einfühlsamer und genau beobachteter Dokumentarfilm gelungen, der durch seine stille und stilsichere Art beeindruckt. Ausgezeichnet wurde er dafür unter anderem schon mit dem Preis für den besten Schweizer Dokumentarfilm und dem European Film Award für den Besten Dokumentarfilm. Für den Regisseur, der eigentlich Musiker ist, hoffentlich Ansporn genug, sich an ein weiteres Dokumentarfilm-Projekt zu wagen. Dokumentarfilme gibt es zwar viele, aber solche mit echten Kino-Qualitäten leider viel zu selten.

Winternomaden

Welcher gestresste Städter hat sich nicht schon mal aus dem Hamsterrad des Jobs hinaus auf eine ruhige Schafweide geträumt? Die Schafe grasen friedlich, die Hütehunde tollen herum, ein laues Sommerlüftchen weht einem um die Nase. Ein schöner Traum. Das wahre Schäfer-Leben jenseits solcher Schwärmereien ist eher nichts für Weicheier. Es findet auch bei Regen, Kälte und Schnee im Winter statt – und übt eine ganz eigene Faszination aus.
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Meinungen

Stefan · 24.12.2012

Ein unbedingt sehenswerter Film, den ich glücklicherweise schon auf der Berlinale 2012 sehen "durfte".
Er "entführt" uns in ein Leben, das so fern ab von der realen Welt scheint, welche von vielen Zwängen, Abhängigkeiten, ob bewußt oder unbewußt wahrgenommen, geprägt ist. Die Technologiebestimmtheit unseres Alltags scheint bei Pascal und Carole aufgehoben.
Und doch ist der Film fern ab von einer Verklärung des SchäferInnenlebens, da er die realen körperlichen und emotionalen Belastungen aufzeigt. Und schlussendlich werden die Tiere zum Töten gehalten und nicht aus Nächstenliebe.
Mich fasziniert dennoch das Lebensglück der Beiden, das im Film ehrlich gezeigt wird. Es ist ein wirklich authentischer Film, der uns in eine andere Welt entführt. Als Zuschauer wird einem bewußt, dass Glück für Pascal und Carole etwas ganz anderes bedeutet als für die Mehrheit in dieser hochtechnologischen, konsumorientierten Welt. Ein Leben, dass einen fasziniert und doch fremd bleibt (und auch soll.)
Nicht verpassen !