Winna - Weg der Seelen

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Geisterstunde in den Walliser Bergen

Passend zum Allerseelenmonat November kommt ein Dokumentarfilm über Mythen und Sagen aus dem Schweizer Kanton Wallis in die deutschen Kinos. Dort, in der Bergwelt rund ums Matterhorn, erzählen sich die Alten noch heute Geschichten über den unheimlichen Gratzug. In der Geisterstunde nach Mitternacht wandern die sogenannten Armen Seelen in einer Prozession auf Dorf- und Bergpfaden, um für ihre Sünden zu büßen. Die Lebenden bekommen sie in der Regel nicht zu sehen, aber es gibt seit jeher einzelne Menschen, die eine oder mehrere dieser Gestalten erblicken und den anderen Dorfbewohnern davon erzählen. Doch die Geschichten über den Gratzug werden seltener und drohen, in Vergessenheit zu geraten.
Die Schweizerin Fabienne Mathier hat sich in den Dörfern des Wallis umgehört und mit Sagensammlern und -erzählern gesprochen. Und auch mit anderen Menschen, die von diesen volkstümlichen Mythen zu vielfältigen eigenen Erlebnissen mit Geistern inspiriert wurden. Oft steht die Trauer um einen nahen Angehörigen dahinter. Indem Winna — Weg der Seelen diese verschiedenen Vorstellungen zusammenträgt, verweist er über die regionalen Traditionen hinaus auf einen Wandel im Umgang mit dem Tod.

Die Sagen über den Gratzug stammen aus einer Zeit, in der das Geschichtenerzählen bei Kerzenschein die einzige Abendunterhaltung war. Die Leute hätten sich gegenseitig Angst gemacht, konstatiert ein Mann vor der Kamera. Der Grusel wurde sicherlich auch durch die Angst der Gläubigen vor dem Fegefeuer verstärkt, der Strafe für irdische Verfehlungen. Welche Routen die Armen Seelen traditionell abwandern, kann ein Experte auf einer Landkarte ganz genau angeben. Außerdem erfährt man, dass sie nach Mitternacht auch gerne in den Spalten des Aletschgletschers verschwinden – vor nächtlichen Wanderungen auf dem rutschigen Gelände muss also auch aus diesem Grund gewarnt werden.

Es könnte auch passieren, dass einer der unsichtbaren Toten dem Menschen, der unwissentlich seinen Weg kreuzt, einen Kuss gibt oder gar etwas nach ihm wirft. Das nennt man dann „in eine Winna kommen“, was zu bösen Schwellungen führt oder schlimmstenfalls die Ankündigung des eigenen Todes bedeutet. Mehrere Dorfbewohner erzählen auch von Geistern, die eigene Wege gehen und lärmend auf sich aufmerksam machen, wie ihre Kollegen in britischen Schlossgemäuern. Eine Gruselstimmung suggerieren in dieser Filmphase auch die Aufnahmen der Berglandschaft, über die im Zeitraffer Wolken ziehen, während das Heulen des Sturms instrumentalisch begleitet wird.

Doch Mathiers Film bleibt angenehm neutral, schwenkt weder ins esoterische Bekenntnis noch in die pure Ironie, obwohl die beiden Haltungen zuweilen um die Oberhand kämpfen, wenn sich Erzähler ins Fabulieren hineinsteigern. Leicht könnte man meinen, im Wallis grassiere überall der Glaube an Geister, aber die Schülerin Sarina bleibt unbeeindruckt. Mit dieser Protagonistin, die sich im Auftrag des Lehrers bei den Leuten über den Gratzug informiert, etabliert der Film ein Gegengewicht der Nüchternheit. Sarina besichtigt interessiert, aber nicht verängstigt Beinhäuser, hört den Alten zu, befragt eine junge Frau, die als Medium arbeitet und überall Verstorbene sieht.

Allmählich verändert sich der Tenor des Films mit der Auswahl der Berichte. Die junge professionelle Geisterseherin spricht so liebevoll und engagiert über ihre Begegnungen und die Allgegenwart der Verstorbenen, dass man zumindest anerkennen muss, wie ernst sie das meint. Und da sind dann die zu Herzen gehenden Erzählungen trauernder Menschen, die aufgrund diverser Zeichen die Nähe der Verschiedenen wahrnehmen und in der Regel auch herbeisehnen. Im Umgang mit Tod und Jenseits scheint die traditionelle Angst auf eine neue sanfte Neugier zu treffen, die sich aus Mystik, Trauer, Innerlichkeit speist. Vielen Menschen ist wohl die Vorstellung, wohin der Tote geht, inzwischen auch weniger wichtig, als das Bekenntnis, „in unseren Herzen wirst du weiterleben“.

Winna - Weg der Seelen

Passend zum Allerseelenmonat November kommt ein Dokumentarfilm über Mythen und Sagen aus dem Schweizer Kanton Wallis in die deutschen Kinos. Dort, in der Bergwelt rund ums Matterhorn, erzählen sich die Alten noch heute Geschichten über den unheimlichen „Gratzug“. In der Geisterstunde nach Mitternacht wandern die sogenannten Armen Seelen in einer Prozession auf Dorf- und Bergpfaden, um für ihre Sünden zu büßen.
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