White Box (2010)

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Von Räumen und Unräumen

Dass die Gesetze eins bis vier für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die heute nach ihrer letzten Ausprägung im Volksmund schlichtweg als berühmt-berüchtigtes „Hartz IV“ bezeichnet werden, eklatante Auswirkungen auf die Situation der entsprechenden Leistungsempfänger hatten, wird nach wie vor ungebrochen kontrovers diskutiert. Der Umstand, dass die Arbeitsagentur ihren Klienten je nach Umfang der Lebensgemeinschaft nur den Wohnraum nach genau festgelegten Obergrenzen von Größe und Preis finanziert, führt bei Veränderungen der Personenkonstellationen in der Regel zum Umzug. In der sächsischen Kleinstadt Löbau, in der es zahlreiche Erwerbslose bei fehlenden passenden Wohnungen gibt, verfiel die örtliche Wohnungsverwaltung auf eine kuriose Idee: Überschüssige Quadratmeterzahlen wurden kurzerhand „reduziert“, indem ein Teil der Wohnung als nicht zu betretendes Territorium verriegelt wurde. Statt eines Umzugs wurde einfach ein Zimmer abgeschlossen, so dass den Bewohnern nunmehr nur noch der genehmigte Wohnraum zur Verfügung steht. Nachdem sich der Medienrummel um diese sensationsträchtige Innovation längst gelegt hatte, fand sich die Filmemacherin Susanne Schulz in Löbau ein, um den Auswirkungen dieser höchst ungewöhnlichen Maßnahme nachzuspüren.

Da streifen drei junge Mädchen spielerisch durch den Wald und erzählen vor der Kamera von ihrem Wunsch nach einem eigenen Zimmer. Die fünfzehnjährige Julia vermisst diesen Raum für sich allein, den sie nach der Scheidung der Eltern aufgeben musste. Jetzt teilt sie sich ein Schlafgemach mit ihrer Mutter, und am meisten fehlt ihr die Möglichkeit der ganz individuellen Ausgestaltung ihrer persönlichsten Umgebung. Das Rückzugsgebiet, das Julias eigene vier Wände sein könnten, ist ein leerer Raum, dessen Tür abgeschlossen ist und der damit zur sehnsuchtsumrankten, doch verbotenen Zone zählt. Susanne Schulz besucht die Töchter von so genannten Spätaussiedlerfamilien auch zu Hause und im örtlichen Jugendclub, ebenso wie sie Momentaufnahmen und Erzählungen aus dem Leben weiterer Protagonisten festhält, die sich im sozial und wirtschaftlich kargen Löbau um ein würdiges Dasein bemühen. War das Phänomen der verschlossenen Zimmer auch der Ausgangspunkt für das Interesse der Regisseurin an dem Städtchen und seinen Bewohnern, stellt White Box vor diesem Hintergrund jedoch keine spektakuläre Dokumentation über die Sinn- oder Unsinnigkeit von Unräumen dar, sondern vielmehr eine leises, mitunter geradezu zärtliches Porträt von Menschen, die angesichts widriger, einschränkender Umstände einen eigenen Weg zu finden bemüht sind.

Wie Stillleben einer marginalisierten Randgesellschaft muten die ruhigen, schlichten Bilder von White Box bei Zeiten an, der im Rahmen des internationalen Programms der Dokwoche Leipzig 2010 uraufgeführt wurde. Häufig bleibt ihre Sprache hinter der visuellen Ausdruckskraft des Banalen und Alltäglichen zurück, und dann wieder sind es gerade die bewegend authentisch erscheinenden Worte vor allem der jungen Protagonisten, die mit ihrer manchmal geradezu scheuen Lebensfreude und ihrem Bedürfnis nach Unabhängigkeit und einem besseren Leben beeindrucken. Dieser einstündige Dokumentarfilm, dessen Dramaturgie mitunter scheinbar planlos dahinplätschert und stilistisch immer wieder den Ausschnittcharakter der gezeigten Sequenzen betont, skizziert selbstreferentiell auch das Scheitern des eigenen Vorhabens, wie die Regisseurin am Ende noch einmal selbstkritisch bekennt. Etwas Geheimnisvolles, möglicherweise Prätentiöses zum Vorschein zu bringen, hatte sich Susanne Schulz im Zusammenhang mit den verschlossenen Räumen erhofft, doch im Verlauf der über zwei Jahre dauernden Dreharbeiten, während welcher sie temporär in einer Musterwohnung in Löbau lebte, hat sich ihr Fokus von den Zimmern auf die Befindlichkeiten der Menschen verlagert, für welche die Absurdität der Unräume längst zu einer rudimentären Normalität geworden ist. Um seine persönliche defizitäre Lebenslage zu wissen, und doch dem Sog der Resignation tapfer zu entfliehen und sich der bestmöglichen Gestaltung seines Daseins zu widmen, ohne seine ureigenen Haltungen und auch Träume aufzugeben, darin liegt der schlichte Zauber der Helden von White Box, dessen Größe gerade in seinen unspektakulären Kleinigkeiten zu finden ist.
 

White Box (2010)

Dass die Gesetze eins bis vier für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die heute nach ihrer letzten Ausprägung im Volksmund schlichtweg als berühmt-berüchtigtes „Hartz IV“ bezeichnet werden, eklatante Auswirkungen auf die Situation der entsprechenden Leistungsempfänger hatten, wird nach wie vor ungebrochen kontrovers diskutiert.

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Meinungen

Glückskeks · 08.05.2011

Stoßt die Türen auf!!!

hawkeye · 29.04.2011

tolles thema, gut umgesetzt