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Errol Morris, der Großmeister des politisch interessierten amerikanischen Dokumentarfilms begibt sich in einer sehenswerten Serie zwischen Realität, Delirium, Wahn und Spielfilm auf die Suche nach den Hintergründen eines ungeklärten Todesfalls in den Reihen des CIA.

Wermut (Mini-Serie)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der Fenstersturz von New York

Es gibt Geschichten, die klingen so unwahrscheinlich, so sehr nach Verschwörungstheorie oder zumindest viel Phantasie beim Ersinnen hochspannender Plots, dass man sie kaum glauben mag. Das gilt auch für das neue Werk des US-amerikanischen Dokumentarfilmers und Oscar-Preisträgers Errol Morris (The Fog of War, Standard Operating Procedure). Ungewöhnlich ist dabei aber nicht nur die Gestaltung und Erzählweise, die immer wieder an Paranoia-Thriller erinnert, sondern auch das Distributionsmedium, denn erstmalig in seiner Karriere hat der Regisseur eine sechsteilige Serie zwischen Dokumentation und Spielfilm gedreht – und das auch noch für den Streamingdienst Netflix.
Wermut (der Originaltitel lautet Wormwood) erzählt eine unglaubliche Vater-Sohn-Geschichte, die einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren umfasst. Im Mittelpunkt stehen der Psychologe Eric D. Olson und dessen Vater, der 1953 unter merkwürdigen Umständen aus dem Fenster eines Hotels in New York „fiel oder sprang“, wie es in dem Untersuchungsbericht hieß. Traumatisiert vom Tod des Vaters, eines zivilen Wissenschaftlers im Dienste der CIA, kommt 22 Jahre später durch den so genannten Rockefeller Report über illegale Aktivitäten des CIA die Wahrheit ans Licht: Für ein geheimes Projekt namens „MK-Ultra“ soll Frank Wilson ohne sein Wissen unter Drogen gesetzt worden sein. Die Gabe von LSD während eines Meetings im vertrauten Kollegenkreis soll dann schließlich zu einem psychotischen Schub geführt haben, an dessen Ende der Sprung aus dem Fenster stand. Doch stimmt das wirklich? Oder steckt nicht vielleicht doch viel mehr dahinter? Insbesondere die gigantische Summe von 750.000 Dollar, die die US-Regierung der Familie anbietet (und die diese auch annimmt), erregt den Verdacht von Eric Olson, der sich fortan der Suche nach der Wahrheit über den Tod seines Vaters verschreibt. Und diese Suche führt den rational denkenden Wissenschaftler immer wieder in die Nähe von absurden Verschwörungstheorien – oder vielleicht doch nicht?

Die Geschichte hinter Wermut scheint wie gemacht für Errol Morris. Der Filmemacher, der früher selbst als Detektiv arbeitete, hat dank seines Einfallsreichtums ein faszinierendes Labyrinth im Zwischenreich von Recherche und Fiktion geschaffen, das gemeinsam mit Eric Olson Theorien entwirft, Indizien und Spuren verfolgt, verwirft und immer wieder neu zusammensetzt, ohne dabei mehr als nur Hypothesen zu entwickeln. Die sorgsam inszenierten und mit erstklassigen Schauspielern wie Peter Skarsgaard, Molly Parker, Bob Balaban und Tim Blake Nelson gestalteten Reenactment-Sequenzen erinnern nicht von ungefähr an Filme aus der Zeit des Film noir, die Interview-Szenen zwischen Olson und Morris splittern sich immer wieder in multiple Split Screens auf, bis das Bild mindestens genauso vielfältig ist wie die Möglichkeiten und Theorien, die der Film gemeinsam mit seinem Protagonisten ersinnt. Und dann sind da noch kleine, aber feine Details wie etwa die Tatsache, dass die Uhr in dem Raum, in dem die Interviews geführt werden, stets zwischen 2:30 und 2:35 Uhr anzeigt – dem Todeszeitpunkt von Frank Olson. Hinzu kommen visuell aufwändig gestaltete Traumsequenzen, Ausschnitte aus der Hamlet-Verfilmung von Laurence Olivier aus dem Jahre 1948 (die Assoziation zu Shakespeares Drama kommt von Olson selbst, der sich ebenfalls vom Geist seines toten Vaters heimgesucht glaubt) und eine unglaublich einfallsreiche Kamera, die immer wieder schräge Perspektiven und ungewöhnliche Blickwinkel einbaut, bis man sich in einem Labyrinth wie jenem des Doktor Caligari gefangen glaubt.

Wermut ist ohne Zweifel eine echte Herausforderung für die Zuschauer – aber es ist eine, die Spaß macht und vieles über die komplizierten und verschlungenen Pfade zur Wahrheit erzählt, die manchmal auch einfach nur ins Nichts führen.

Wermut (Mini-Serie)

Es gibt Geschichten, die klingen so unwahrscheinlich, so sehr nach Verschwörungstheorie oder zumindest viel Phantasie beim Ersinnen hochspannender Plots, dass man sie kaum glauben mag. Das gilt auch für das neue Werk des US-amerikanischen Dokumentarfilmers und Oscar-Preisträgers Errol Morris („The Fog of War“, „Standard Operating Procedure“).
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