Wenn Ärzte töten - Über Wahn und Ethik in der Medizin

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Mister Hyde ist überall

Es wird wohl eine Frage bleiben, die sich nie restlos klären lässt: Wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet berufsmäßige Bewahrer des Lebens zu den Mördern von Auschwitz wurden? Aber eines scheint nach der Dokumentation von Hannes Karnick und Wolfgang Richter klar: Die meisten Nazi-Ärzte waren keine sadistischen Monster, sondern normale Menschen. Die These vertritt zumindest der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton, dessen Erkenntnisse der Film in ausführlichen Interviewpassagen vorstellt.
Eine höchst beunruhigende Botschaft: Wenn jeder durchschnittliche Mensch und insbesondere jeder durchschnittliche Arzt über einen Prozess der Gewöhnung dazu gebracht werden konnte, persönlich Tausende von Menschen in Gaskammern zu schicken und ihre Ermordung zu überwachen, dann stellt sich die dringende Frage, wie sich so etwas verhindern lässt. Und natürlich ist es genau diese Überlegung, die den heute 83-jährigen jüdischen Wissenschaftler dazu brachte, sich in seinem gesamten Forscherleben mit höchst bedrückenden Fakten zu beschäftigen.

Der Mitbegründer der Organisation „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“, die 1985 den Friedensnobelpreis bekam, ist weit davon entfernt, irgendetwas zu verharmlosen oder zu relativieren, wenn er die Nazi-Ärzte nicht als ideologiegeleitete und psychisch gestörte Fanatiker betrachtet. Die Triebfeder seines Denkens ist: Nur wer den Prozess der Sozialisation zum Bösen wenigstens in Ansätzen versteht, kann etwas dagegen tun.

Robert Jay Lifton beschäftigt sich seit den 1950er Jahren mit den psychischen Vorgängen von Tätern und Opfern in Ausnahmesituationen. Er hat Bücher über Gehirnwäsche, über die Überlebenden von Hiroshima, über Vietnam-Veteranen und religiös motivierte Terroristen geschrieben. 1986 erschien sein Buch The Nazi Doctors das zwei Jahre später auch in deutscher Sprache zu haben war (Ärzte im Dritten Reich). In seinen Recherchen für diese Studie sprach er mit Tätern und Opfern. Obwohl diese Interviews mehr als 20 Jahre zurückliegen, erinnert er sich noch heute an Details. Und man merkt ihm in Wenn Ärzte töten deutlich die emotionale Erschütterung an, die mit diesen Begegnungen verbunden war.

Die erfahrenen Dokumentarfilmer Hannes Karnick und Wolfgang Richter (beide Jahrgang 1947) haben sich dafür entschieden, weniger die Person als die Thesen und Anliegen Liftons in den Mittelpunkt zu stellen. Das führt zu einem etwas theorielastigen Ergebnis, das dem Zuschauer hohe Aufmerksamkeit abverlangt. Wer sich jedoch darauf einlässt, erfährt einiges über die psychische Grundausstattung des Menschen, der nach Liftons Erkenntnissen weder von vornherein gut noch von vornherein böse ist, sondern sich auf einem moralischen Kontinuum bewegt. Damit sind Veränderungen hin zum Pol des absolut Bösen prinzipiell möglich, insbesondere wenn eine entsprechende Ideologie hinzukommt und die direkte Tötung von Angesicht zu Angesicht durch Technologien ersetzt wird, die Abstand schaffen.

Es ist ebenso erschreckend wie faszinierend, welche Rechtfertigungs- und Abwehrmechanismen Lifton bei den interviewten Tätern aufgedeckt hat. So entsteht nach und nach ein Flickenteppich von subtilen Grenzüberschreitungen, von ersten, noch vergleichsweise harmlos erscheinenden Schritten, die zusammengenommen die Sozialisation zum Bösen bilden und das Ungeheuerliche ein Stück weit verständlicher machen.

Eine der wichtigsten Strategien der Psyche, die sie zum Bösen befähigen, ist nach Liftons Thesen die Spaltung oder Doppelung in zwei fast selbstständige Persönlichkeitsteile, vergleichbar einem Dr. Jekyll und Mister Hyde. Selbst dem langjährigen SS-Chefarzt von Auschwitz, Dr. med. Eduard Wirths, gesteht Lifton ein menschliches Selbst zu, einen Persönlichkeitsteil, der sich dem hippokratischen Eid verpflichtet fühlte. Weil Wirths zwischen diesem Teil-Selbst und dem „Auschwitz-Selbst“ hin und her wechseln konnte, war es möglich, dass er bei seinen Heimaturlauben plötzlich ein liebender Familienmensch sein konnte und danach wieder der Auschwitz-Wirths. Erschreckender noch: Lifton geht davon aus, dass das humane Selbst in gewisser Weise das Funktionieren des Auschwitz-Selbst unterstützte, indem es ihm half, die Augen vor seiner Bösartigkeit zu verschließen.

Muss man also zynisch werden angesichts der normalen menschlichen Grundausstattung, die keinen natürlichen Schutz gegen das Böse vorsieht, keine Tötungshemmung gegenüber Artgenossen wie bei den Tieren? Nein, sagt Lifton. Wir sind nicht von Natur aus böse. Sondern wir können Entscheidungen treffen. Und das macht sogar jemandem Hoffnung, der 50 Jahre lang in menschliche Abgründe geblickt hat.

Wenn Ärzte töten - Über Wahn und Ethik in der Medizin

Es wird wohl eine Frage bleiben, die sich nie restlos klären lässt: Wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet berufsmäßige Bewahrer des Lebens zu den Mördern von Auschwitz wurden? Aber eines scheint nach der Dokumentation von Hannes Karnick und Wolfgang Richter klar: Die meisten Nazi-Ärzte waren keine sadistischen Monster, sondern normale Menschen.
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Meinungen

M.Schellenberg · 23.11.2009

Wer Geschichtsinteressiert ist und sich vor allem für das 3. Reich interessiert, sollte sich diesen Film anschauen! Eine sehr interessante aber auch gleichzeitig erschreckende Reise in das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte! Sehr empfehlenswert!