Vergiss mein nicht (2012)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der lange Abschied

Gäbe es im dokumentarischen Film eine Maßeinheit für die persönliche Involvierung ins Thema und auch die Screentime, die ein Filmemacher sich selbst zumisst – nennen wir das Ganze mal den „Michael-Moore-Koeffizienten“ — würde neben Jan Peters (Nichts ist besser als gar nichts) mit Sicherheit auch David Sieveking im internationalen Vergleich gut abschneiden. Schon Sievekings erster Film David Wants to Fly über seine Begegnung mit dem Namensvetter und Berufskollegen David Lynch bezog ihren Charme nicht nur durch den eigentlich Portraitierten, sondern auch durch die Exponiertheit des deutschen Regisseurs. Obwohl es in Vergiss mein nicht, dem neuen Film Sievekings, noch einmal ernster und persönlicher zugeht als in seinem Debüt, verschwindet auch hier der Filmemacher nicht hinter der Kamera, sondern ist beinahe ständig sichtbar – auch wenn es in dem Werk wieder einmal nicht um ihn selbst geht.

Nachdem sich bei David Sievekings Mutter Gretel seit dem Jahr 2005 die Anzeichen für eine Demenz-Erkrankung gehäuft hatten, erfolgte drei Jahre später die Diagnose Alzheimer. Seitdem wird sie von ihrem Mann Malte, einem emeritierten Mathematik-Professor, gepflegt, der eigentlich vorgehabt hatte, den Ruhestand für die Fortsetzung seiner Forschungen zu nutzen. Doch es kam anders. Als Malte nun für einige Zeit in die Schweiz will, um sich einmal zu erholen, erklärt sich David Sieveking bereit, in der Zeit die Betreuung seiner Mutter zu übernehmen. Begleitet von seinem Kameramann dokumentiert der Regisseur die Schwierigkeiten des alltäglichen Zusammenlebens und zeigt die Belastung, die solch eine Erkrankung für alle Beteiligten darstellt. Zugleich aber ist der Film auch ein von Liebe und Zuwendung geprägtes Portrait einer ungewöhnlichen Frau und einer Familie, die langsam Abschied nehmen muss von einem geliebten Menschen.

Doch David Sieveking fokussiert in seinem überaus bewegenden Film nicht allein auf die Krankengeschichte, sondern er leistet zugleich etwas, zu dem Gretel nicht mehr in der Lage ist: Erinnerungsarbeit an ein reiches und erfülltes Leben. Wie ein Detektiv verfolgt der Filmemacher die Spuren seiner Eltern zurück zum ersten Kennenlernen und rekonstruiert die Stationen eines gemeinsamen Familienlebens, das nicht frei von Sorgen und Brüchen, von Verletzungen und kleinen Niederlagen war. Auf diese Weise entdeckt er, und mit ihm der Zuschauer, zahlreiche Facetten einer überaus aktiven und politisch engagierten Frau, die er zuvor als Sohn schlicht nicht wahrgenommen hat.

Vergiss mein nicht ist aber nicht nur ein sehr persönlicher und überaus bewegender Film über einen langen Abschied geworden, er verweist jenseits des Privaten auf eine Problematik, mit der sich immer mehr Menschen in Deutschland konfrontiert sehen – sowohl als Betroffene als auch als Angehörige und Freunde: Rund 1,3 Mio. Menschen in Deutschland leiden bereits an Demenz, bis zum Jahr 2050 wird sich die Anzahl der Kranken in Deutschland verdoppeln. Allein schon dadurch wird der Umgang mit der Krankheit und den Erkrankten zu einer immer drängenderen Frage für viele Menschen. David Sieveking gibt mit seinem herausragenden Film keine endgültigen Antworten – die es auch gar nicht geben kann –, aber er beweist eine Haltung, die Mut macht. Sowohl im Umgang mit seiner Mutter als auch durch die Entscheidung, die Kamera so nah heranzulassen an die lange Zeit des Abschieds.
 

Vergiss mein nicht (2012)

Gäbe es im dokumentarischen Film eine Maßeinheit für die persönliche Involvierung ins Thema und auch die Screentime, die ein Filmemacher sich selbst zumisst – nennen wir das Ganze mal den „Michael-Moore-Koeffizienten“ — würde neben Jan Peters („Nichts ist besser als gar nichts“) mit Sicherheit auch David Sieveking im internationalen Vergleich gut abschneiden.

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Meinungen

Ernst-Gundrud Winkler · 19.05.2013

Erinnert an die eigene Familie
Beruehrt einen tief im inneren
Ein Film den an nicht vergisst
(auf jeden fall sehenswert)
Wer Action sucht der ist hier falsch aber an einigen stellen darf man im Film trotz der Traurigkeit der Situation mal Lachen ( natuerlich auch Weinen)

wolf.S. · 01.03.2013

__stimmt, sehr berührend und tiefgehend.
Man denkt neu über das Menschsein und den Sinne des Lebens nach - was ist MEIN SINN des Lebens....
...wer sind für mich die wichtigen Mensch auf dieser Erde und wer bin ich ohne sie ?