Überleben in Neukölln

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Berlins bunter Bezirk

Rosa von Praunheim schaut sich die Leute sehr genau an. Interessiert sich für sie. Geht ganz empathisch auf sie ein. Er hat eine Kamera dabei, und er dreht schnell und lässig seine filmischen Porträts von den Leuten, die ihm am Herzen liegen. Und dann nimmt er diese Kurzporträts und stellt sie zusammen, stellt sie in einen größeren Kontext – und es kommt so etwas heraus wie Überleben in Neukölln, ein Filmmosaik, dessen Bausteine das Bild eines Stadtteils ergeben.
Dass Rosa von Praunheim Pionier der Schwulenbewegung ist, erklärt einerseits seinen Schwerpunkt auf dem queeren Leben in Neukölln; und ist andererseits auch Erklärung für seinen genauen Blick: Wer lange von der Gesellschaft als „anders“ angesehen wurde, sieht deutlicher hin auf die, die ebenfalls von dem abweichen, was als „Norm“ anerkannt wird. Und schon diese Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, weicht die sogenannte „Norm“ auf, stellt sie in Frage, macht auf ihren fragwürdigen Status aufmerksam. Das ist die Politik hinter von Praunheims Filmen, das macht ihn zu einem filmischen Aktivisten, selbst wenn seine Filme zunächst gar nicht aktivistisch erscheinen, sondern sich als dokumentarisches Porträt ausweisen – ganz harmlos also.

Klammer von Überleben in Neukölln ist Juwelia, bürgerlicher Name Stefan Stricker: Sie unterhält eine Galerie und lädt am Wochenende zu so etwas wie einem künstlerischen Salon ein. Da singt sie und erzählt aus ihrem Leben. Noch eingehender tut sie dies vor von Praunheims Kamera, die an Juwelia offenbar einen Narren gefressen hat, die sich aber immer wieder von ihr losreißt für ihre Reise durch die Straßen von Neukölln. Da werden diese Typen mit der Kamera auch mal von Passanten böse angemacht – immerhin: Dies ist nach wie vor Neukölln, spätestens seit 2006 als Brennpunkt sozialer Spannungen bundesweit bekannt, Stichwort: Rütlischule. Diesem Brandzeichen hält von Praunheim seine Entdeckungen in der kreativen Szene entgegen, vom Straßenmusikanten bis zum Theaterprojekt. Und er sieht hin, welche Vielfalt an Personen und Persönlichkeiten hier wohnen, Künstler, Typen, Querdenker, die Neukölln zum bunten Spielplatz machen.

Einer verewigt sich selbst auf Fototassen, nackt, für seinen Liebsten. Ein anderer fickt als Performanceakt jeden Tag mit einem anderen Mann. Ein kubanischer Musiker lebt hier mit einem Mann und mit seinem 17jährigen Sohn zusammen. Patsy l’Amour la Love, Polittunte par excellence, wirbt in einer Cabaret- und Kabarettshow für die analen Freuden, denen ein Hetero niemals begegnen würde, der Arme. Neben diesen mal schrägen, mal familiären Protagonisten aber wird der Film mitunter sehr nah, intim, emotional. Wir begegnen einer syrischen Sängerin, die mit einfachen, aber ergreifenden Worten ihre Fluchtgeschichte erzählt – und dafür ist es irrelevant, ob sie Künstlerin oder wie queer sie ist: Sie ist ein Mensch, ein Mensch, der Schlimmes erlebt hat. Oder die fast 90jährige Frau Richter, die nach Neukölln gezogen ist, ihrer großen Liebe hinterher, weil sie nur hier mit einer Frau zusammenleben konnte: Hier wird tatsächlich das „Normale“ zum Ereignis, das Persönliche – hier geht es nicht darum, nach außen zu performen, sondern ins Innere zu blicken.

Dieses Vermischen des Privaten mit dem Politischen, ganz hintenrum, über das Zuhören und Nachfragen, über das Zeigen: Das ist eine Kunst, die von Praunheim beherrscht. Das „Abseitige“ der Transen und Tunten und das „Gesellschaftsfähige“ der Künstler und der Liebenden findet keine Unterscheidung mehr, und das ist gut so. Vielmehr wird der Reichtum sichtbar, der hier in Neukölln versammelt ist – und ganz nebenbei auch bedroht ist, weil hier, wo vor ein paar Jahren noch alles so billig war, dass sich die Künstler herwagten, inzwischen auch das Gespenst der Gentrifizierung aufgetaucht ist: Jetzt kommen die feinen Leute, heißt es einmal, überall entstehen Coffeeshops – soviel Kaffee können wir nicht trinken.

Immer wieder kommt von Praunheim auf Juwelia zurück. Begleitet sie auch auf eine Amerikareise. Und begleitet sie zurück in das hessische Dorf, wo sie herkommt. Wo ihre Mutter gelebt hat, bis vor kurzem. Die Mutter, die mit 82 Jahren Selbstmord begangen hat – und hier geht von Praunheim zu weit. Doch auch das gehört bei ihm zum Programm, dass das Private offengelegt wird, dass es allen gehört, er ist nach wie vor radikal: Und er zeigt das Grab, nennt den Ort, nennt Namen. Das mag sich für Juwelia wie Befreiung anhören – doch ist es das auch?

Überleben in Neukölln

Rosa von Praunheim schaut sich die Leute sehr genau an. Interessiert sich für sie. Geht ganz empathisch auf sie ein. Er hat eine Kamera dabei, und er dreht schnell und lässig seine filmischen Porträts von den Leuten, die ihm am Herzen liegen.
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