Ü100

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Alltag im astronomischen Alter

Was ihr wichtig im Leben war, wird eine über hundertjährige Frau gefragt. Die bettlägerige Theresia versteht offensichtlich akustisch nicht, was die Regisseurin Dagmar Wagner von ihr wissen will, woraufhin deren Stimme lauter und langsamer wird, nun ganz nahe des Ohres. Dennoch scheitert diese kleine Konversation zunächst, zur Erheiterung von Theresia, die aber später noch aus ihrem Leben erzählen wird. Ebenso wie sieben weitere Damen und Herren mit dreistelliger Jahreszahl, die im Rahmen des Dokumentarfilms Ü100 ausführlich in ihrer Alltags- und Gedankenwelt porträtiert werden.
Menschen, die hundert Jahre alt und älter sind, waren vor noch gar nicht allzu langer Zeit absolute Ausnahmeerscheinungen, doch mittlerweile sind die Aussichten auf ein derart hohes Alter für zahlreiche Menschen in unserer Gesellschaft enorm gestiegen. Wird der Begriff des demographischen Wandels hinsichtlich einer deutlich erhöhten Lebenserwartung im sozialpolitischen Kontext und in öffentlichen Debatten hierzulande regelmäßig als Problemstellung verwendet, ist es umso erfrischender, hier einmal anhand von individuellen Schicksalen in die konkrete Lebensrealität von „uralten“ Menschen einzutauchen. Dass diese sich noch reichlich lebendig, durchaus häufig eingeschränkt und beschwerlich, doch nichtsdestotrotz zufrieden, heiter und nachdenklich gestalten kann, davon zeugen die filmischen Interviews mit der fußballvernarrten Erna, dem audiovisuell herausgeforderten Franz, der einstigen Lehrerin Hella, der nach wie vor aktiven Pianistin Ruja, der Einparkbeobachterin Anna, der frohgemuten Gerda, der gelassenen Theresia sowie dem eigenständigen Ernst. Unpathetisch, offen und nicht selten mit leisem Stolz und unerschütterlichem Charme erzählen sie von ihrer täglichen Tapferkeit, ihr betagtes Dasein würdig und mit wachem Bewusstsein zu führen. Dabei schimmert bei Zeiten eine tragende Tiefe jenseits der offensichtlichen Fragestellungen durch, die jedoch seitens der filmischen Gestaltung bedauerlicherweise kaum intensiviert wird.

Mehr oder weniger Unterstützung im Alltag benötigen die betagten Damen und Herren alle, doch ihr Lebensmut und ihre Erinnerungen an vergangene Freuden und Leiden sowie ihre Bereitschaft, diese mit ihrer gegenwärtigen Umgebung zu teilen, zeigt sich hier als wichtige, unbedingt zu fördernde und selbst förderliche Qualität der ältesten Generation. Dass auch in diesem Alter noch positive Entwicklungen und selbstkritische Reflexionen möglich sind, kommt so erstaunlich wie erfreulich im Film zum Ausdruck. Ist auch der Tod ein nahes, wichtiges und aktuelles Thema der ganz persönlichen Narrationen, haftet diesem doch keine Schwere oder gar Angst an, sondern vielmehr eine bewundernswerte, berührende Gelassenheit. Und diese kann wunderbar als Grundstimmung für diesen schnörkellosen Dokumentarfilm gelten, der sich ganz der Geschwindigkeit und den Befindlichkeiten seiner porträtierten Protagonist_innen anpasst, ohne unangenehm langsam oder zähflüssig zu erscheinen. Dass die Dramaturgie dabei allerdings überwiegend konventionell angelegt ist und allein mitunter glättend auf die direkt sichtbare Interview-Situation verzichtet, transportiert deutlich ein Fernseh-Flair, das sicherlich auch den beschränkten Produktionsmitteln entspringt.

Ursprünglich in einer um dreißig Minuten kürzeren Version entstanden und im Rahmen des Fünf Seen Filmfestivals im Juli 2014 vor einem bewegten Publikum uraufgeführt, kommt Ü100 nun als abendfüllender, unabhängiger Dokumentarfilm in die deutschen Kinos. Vor dem landesweiten Kinostart am 6. April findet einen Tag vorher eine spezielle Premiere des Films im Münchner Rio-Filmpalast in Anwesenheit der Regisseurin statt, als besonderes Event des „Tags der älteren Generation“, der am 5. April international illustre Veranstaltungen und Aktionen rund um das Thema bietet. Die umfangreiche Pressekampagne, die den Film begleitet, zielt auch auf eine künftige Ausstrahlung im TV ab, um einen möglichst breiten Zuschauerkreis mit einer ebenso banalen wie bedeutsamen Botschaft zu erreichen: Dass Altern und Alter weitaus mehr mit sich bringen als Verlust und Verfall. Das wird auch im konservativen Konzept der Inszenierung reichlich deutlich.

Ü100

Was ihr wichtig im Leben war, wird eine über hundertjährige Frau gefragt. Die bettlägerige Theresia versteht offensichtlich akustisch nicht, was die Regisseurin Dagmar Wagner von ihr wissen will, woraufhin deren Stimme lauter und langsamer wird, nun ganz nahe des Ohres.
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Meinungen

konsul33 · 28.03.2017

Ein wunderschöner Film, der Einblicke in das Leben von über 100-Jährigen gewährt - Einblicke, die man sonst nicht bekommt. Sehr zu empfehlen!