Tip Top

Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein

Sie wollte Regisseur Serge Bozon in seine verrückte Welt folgen, erklärte Hauptdarstellerin Isabelle Huppert im Werkstattgespräch der Cologne Conference 2013.
Tatsächlich: Wer bereit ist, Bozons bizarren Ideen zu folgen, wird von einem ungewöhnlichen Film überrascht, basierend auf dem gleichnamigen Roman des britischen Autors James Tucker (alias David Craig, alias Bill James) aus dem Jahr 2006. Bozon strickt daraus in seinem dritten Langfilm nach La France (2007) und L‘amitié (1998) eine bunte Mischung aus Comedy, Farce und politisch grundiertem Krimi. Das Ergebnis ist ein perfekt komponiertes Kunstwerk.

Auf der Handlungsebene erzählt Serge Bozon mit seinen Co-Autoren Odile Barski, Axelle Ropert von der Aufklärung eines Mordes. Der Tote war ein Spitzel von Polizist Robert Mendès (Francois Damiens). Er vermutet, dass ein Maulwurf in den eigenen Reihen den Informanten ans Messer geliefert hat. Die Interne Ermittlung rückt an, unter Leitung von Esther Lafarge (Isabelle Huppert) und neu an ihrer Seite die wegen Fehlverhaltens strafversetzte Polizistin Sally Marinelli (Sandrine Kiberlain).

Die Bildsprache aber erzählt von Figuren, die sich in fremde Welten bereits begeben haben oder noch begeben wollen. Türen und Fenster versinnbildlichen den begehrlichen Blick in das unbekannte Leben, aber sind zugleich auch die Mauer, die den Eintritt nicht oder noch nicht gestattet. Den gleichen Zweck erfüllt ein Fernsehschirm. Er gibt zwar den Blick auf Ausschreitungen in Algerien frei, bleibt aber Oberfläche, die das Geschehen nur spiegelt. Immer wieder stehen Bozons Protagonisten vor Türen, zögern, klopfen, verschwinden eilig oder warten, bis sich die Tür öffnet. Häufig bleibt der Kontakt an der Türschwelle hängen, manchmal wird der Eintritt gestattet, doch Eintreten bedeutet noch lange nicht Verstehen.

Eine fremde Welt offenbart sich auch am Ort der Handlung: Villeneuve, in der Nähe von Lille. Eine Gegend mit einem hohen Bevölkerungsanteil afrikanischer Immigranten, eine vornehmlich algerische Community. Die wurde in einem Vorzeigeprojekt mit Aussicht auf Park und kleinem See einquartiert. Das muss lange her sein, denn zum Vorzeigen gibt es hier nur noch wenig. Die schöne Aussicht ist zwar geblieben, alles andere aber heruntergekommen und verwahrlost. Es sind triste Wohnsilos unter grau verregnetem Himmel. Bozon lässt die reale Existenz dieses Viertels während einer touristischen Bustour mit einfließen. Bei Sonnenschein lädt immerhin der Park zum Picknick ein, in der Nacht lockt er Verbrecher und Polizeispitzel. Einer von ihnen lag tot am See.

Die Interne ermittelt in der algerischen Gemeinschaft. Lafarge vernimmt schnippisch, schneidend und schnell, was ihre Assistentin Marinelli in Ehrfurcht versinken lässt. Dabei haben beide Frauen Bezug zur arabischen Welt, teilen ihr Leben mit arabischen Männern, Lafarge spricht zudem fließend arabisch. Auf ihr Niveau wird Kollege Mendès nie kommen. Er müht sich redlich, doch heraus kommen lediglich lustige Wortverdreher. Die Figuren dringen ein, aber durchdringen können sie den anderen Kosmos nie.

Wie in einer Peepshow können sie den Begehrlichkeiten nur von außen beiwohnen. Eine Obsession, die zu Sally Marinellis Degradierung führte und sie nach und nach näher an die Chefin bringt. Im Hotel wohnen beide Wand an Wand. Marinelli wird so zwangsläufig Ohren- und Augenzeugin der sexuellen Vorlieben ihrer Vorgesetzten Lafarge, was sie verstört und inspiriert. Zuerst nur Spannerin verführt sie am Ende selbst einen Mann zu Sado-Maso-Sexspielen. Äußerlich kleidet sie sich wie ein Zwilling ihrer Chefin.

Und die trägt meistens blau. Ein kühles Blau. Es steht für fehlende Emotionen, aber auch für Sachlichkeit. Es ist ebenfalls die Farbe der Polizei. Kombiniert mit der weißen Bluse. Weiß trägt auch die Frau des Opfers. Mit „Rot“ setzt Bozon gezielt spärliche Akzente. Da leuchtet knallrot der Erste-Hilfe-Koffer der algerischen Community-Patriarchin. Beim Picknick könnte eins der Kinder im See verunglücken. Blau-weiß-rot. Die französischen Nationalfarben. Auch das ein Statement des Regisseurs.

Künstlerisch ist der Film „tiptop“. Bozon benutzt eine klare Bildsprache, spielt geschickt mit symbolischen Elementen und setzt Musik minimalistisch perfekt ein. Abzüge in der B-Note. Komödiantisch versagt der Film. Die Regie-Einfälle zünden nicht immer. Die Schauspieler agieren zu übertrieben. Bis hin zum Klamauk. Isabelle Hupperts Timing ist zwar perfekt, doch ihre manisch überdrehten Ausbrüche passen nicht zur Figurenzeichnung. Das ist schade. Denn, dass ihr die Rolle Spaß macht, ist nicht zu übersehen.

Verrückte Welten sind nicht jedermanns Sache. Aber wer sich entschließt, die Tip Top-Tür zu öffnen, sollte sich ohne wenn und aber auf die Absurditäten des Bozon’schen Kosmos einlassen.

(Filmkritik von Monika Sandmann im Rahmen der Cologne Conference 2013)

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Sie wollte Regisseur Serge Bozon in seine verrückte Welt folgen, erklärte Hauptdarstellerin Isabelle Huppert im Werkstattgespräch der Cologne Conference.
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