Tangerine L.A.

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Ein Film unserer Zeit

Eigentlich spielt die vielerorts betonte Tatsache, dass der Sundance-Hit Tangerine L.A. von Sean Baker auf einem iPhone gedreht wurde, gar keine Rolle. Letztlich geht es um die Beweglichkeit und die wäre auch mit anderen Kameras möglich. Es ist eine Beweglichkeit, die durch die Freiheit der Kamera und ihres Blicks hinein in die Welt etwas in uns bewegt. Wenn man aber bedenkt, dass iPhones heute in der Regel auf den- oder diejenigen gerichtet werden, die sie in der Hand halten, ist es vielleicht doch wichtig, dass Baker ausgerechnet mit diesem Instrument in eine für viele fremde Welt blickt.
Tangerine L.A. ist eine furiose, gleichermaßen von Dubstep und Beethoven untermalte, episodische Milieustudie mit zwei Transgender-Sexarbeiterinnen und einem armenischen Taxifahrer am Weihnachtstag in Los Angeles. Vieles im Drehbuch ist eine Schablone von American-Indie-Filmen, die im Guten wie im Schlechten dazu neigen, uns das Fremde und Queere über allgemeingültige Kategorien wie Liebe und Menschlichkeit näherzubringen. Sin-Dee (Kitana Kiki Rodriguez) wird nach einem vierwöchigen Gefängnisaufenthalt entlassen und trifft ihre Freundin Alexandra (Mya Taylor). Als diese ihr „aus Versehen“ mitteilt, dass Chester (James Ransone), Sin-Dees große Liebe und Zuhälter, sie in ihrer Abwesenheit mit „an actual girl“ betrogen hat, beginnt eine hysterische Tempojagd durch die Straßen von Los Angeles.

Sin-Dee rennt schreiend von Spur zu Spur, um das besagte „tatsächliche Mädchen“ zu finden und sie zu Chester zu schleppen. Alexandra hat von diesem Irrsinn bald genug und konzentriert sich lieber auf ihren großen Gesangsauftritt am Abend in einem Club, den sie für diesen kurzen Moment des Ruhms aus eigener Tasche bezahlt, und verteilt Flyer an Menschen, die allesamt nicht kommen werden. Und dann gibt es da noch den armenischen Taxifahrer Razmik (Karren Karagulian), der nach einigen seltsamen und ekligen Passagieren nach transsexuellen Sexarbeiterinnen sucht, obwohl zuhause eine Familie samt einer Schwiegermutter am Rande des Nervenzusammenbruchs wartet. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass sich die Wege der drei Figuren nicht nur hier und da kreuzen, sondern in einem geladenen Finale endgültig zusammentreffen. Die Qualität des Films liegt sicher nicht in seiner Story, obwohl dort immer wieder auf interessante Art und Weise mit Genderkonstruktionen und Rhythmuswechseln zwischen Orkan (oft) und sanfter Brise (selten) gespielt wird, sondern in der drückend-emotionalen, irgendwie an Mad Max: Fury Road erinnernden „fuck y’all“-Präsenz der portraitierten Welt.

Am besten lässt sich die Drama-Queen-Gegenwärtigkeit des Films am Titel erklären, der sich zunächst auf den, durch die Filter auf dem iPhone noch verstärkten, orangefarbenen Himmel der Stadt bezieht, die hier — das wird im Laufe des Films immer klarer — eine eigene Protagonistin ist. Eine pulsierende Stadt zwischen ihrer eigenen Widerwärtigkeit und der sich darunter verbergenden Schönheit, hier erinnert der Widescreen-Blick von Baker auf die Stadt der Engel an jenen von Peter Fox auf Berlin. Es sind Popfarben, die trotz der ernüchternden Realität noch immer träumen dort am Himmel. Die ständige Bewegung und das Einfangen von tatsächlichem Leben an den Rändern des Bildes, dieser direct-cinema-artige Versuch, einen Film nicht über die Straßen zu machen, sondern auf den Straßen, geht nicht zuletzt wegen der Flexibilität der Drehbedingungen voll auf. Baker gibt sich den Bewegungen dieser Achterbahnfahrt hin und schafft es gerade durch die Geschwindigkeit, von deren Verlorenheit und Einsamkeit zu erzählen. Besonders bemerkenswert ist der äußert stille Schluss, der einen nicht in eine Euphorie, sondern in einen Gedankenprozess entlässt.

Zudem ist das einzige materielle Weihnachtsgeschenk, das im Film sichtbar wird, eine Duftmandarine von Alexandra für das vollgekotzte Auto von Razmik. Es sind diese kurzen Gesten und Momente von Zuneigung und Nähe, die sich durch den unaufhaltsam brüllenden Rausch des Films hindurchdrücken, um letztlich von einer Menschlichkeit zu erzählen, die greifbar wird, weil wir es hier mit wirklichen Konflikten zu tun haben, die sich in den explodierenden Herzen von Individuen abspielen. Dabei ist hervorzuheben, dass Baker mit tatsächlichen Transgender-Frauen drehte, was dem Film eine sinnliche Note gibt, weil man sich nicht über tolle Schauspielleistungen freut, sondern über Wahrheiten, die man in den Gesten und Körpern lesen kann. Natürlich ist ein solches Casting auch ein wichtiges (film-)politisches Statement. Zuletzt könnte man daher die Perspektive von Baker auf dieses Milieu und diese Figuren als „Tangerine“ bezeichnen, etwas, das man schälen muss, und das zunächst wie eine merkwürdige Substanz wirkt, bis man die Süße des Saftes schmeckt, der darin versteckt lag. Ein adrenalingeladener Blick unter der dämmernden Sonne einer Menschlichkeit.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass Tangerine L.A. immer wieder over the top geht bezüglich seines Humors und seines Lärms. In manchen Situationen bewirkt es eine spannende Polemik — wie in einer Szene, in der Razmik eine Sexarbeiterin aufgabelt und mit ihr auf einen versteckten Parkplatz fährt. Er unterhält sich mit ihr und bittet dann um einen Blowjob. Sie ist einverstanden, er bezahlt. Als sie beginnen will, bittet er sie, ihre Hose auszuziehen. Es wird klar, dass er dort eigentlich einen Penis erwartet hätte. Verstört und enttäuscht fragt er die Frau, was dort sei, sie entgegnet: „It’s a pussy, what did you expect?“, woraufhin Razmik die Frau fast panisch aus seinem Auto wirft. In anderen Szenen wirkt die Achterbahnfahrt etwas ermüdend und durch die beständige Beschallung und das Herumgeschreie geht viel vom Humanismus des Films verloren. Die Hysterie, die auch an Pedro Almodóvar erinnert, wirkt außerdem einige Male aufgesetzt, und nicht immer tut die dicke Musik den dünnen Bildern wirklich gut.

Abschließend noch einmal zurück zur Kamera, dem iPhone, das Baker und seinem Kameramann Radium Cheung bereits am Set mit Filtern in seiner eigentlichen Funktionsweise ausgetrickst und damit eine höhere Bildqualität ermöglicht haben, die in der Postproduktion nochmal extrem aufgewertet wurde: Es ist vielleicht auch deshalb bemerkenswert, dass Tangerine L.A. auf diesem Gerät gedreht wurde, weil es auch ein Film über die modernen Wege der Kommunikation ist. Eine Kommunikation, die ihre Wahrheit unter Make-Up, Perücken und Lügen versteckt und vor allem in unseren Vorurteilen. Eine Welt, die sich aber auch verzeihen kann, sobald die Wahrheiten ans Licht kommen. Zumindest bis zum nächsten Betrug oder Selbstbetrug. So ist Tangerine L.A. kein großartiger Film, aber ein Film unserer Zeit.

Tangerine L.A.

Eigentlich spielt die vielerorts betonte Tatsache, dass der Sundance-Hit „Tangerine L.A.“ von Sean Baker auf einem iPhone gedreht wurde, gar keine Rolle. Letztlich geht es um die Beweglichkeit und die wäre auch mit anderen Kameras möglich. Es ist eine Beweglichkeit, die durch die Freiheit der Kamera und ihres Blicks hinein in die Welt etwas in uns bewegt.
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