Sin & Illy Still Alive

Drogenabhängigen mit Respekt begegnen

Allein der Filmtitel lässt den Zuschauer schon zu so manch einer Interpretation hinreißen. Welche Übersetzung läge da nicht näher als die Sünde und das Kränkliche?! Aber sollte es so einfach sein? Bei der Thematik des Filmes wäre skinny natürlich auch denkbar. Vielleicht sogar naheliegender. Oder sind Sin und Illy zwei Seiten einer Person? Ein Alter Ego? Aber von vorne:
Ceci Chuh, Hauptdarstellerin aus Sin & Illy Still Alive ist die Christiane F. der 2010er. Und was in den 1980ern schon Thema war, ist dreißig Jahre später kaum anders. Es gibt immer einen Grund für die Drogensucht, die Geschichten ähneln sich, auch die Sprüche sind die gleichen: „Ich hol uns hier raus, ich besorg uns die Kohle“ etc. pp. Nur die Farben und Bilder sind andere und der Drehort des Berliner Bahnhofs Zoo wird mit dem der Frankfurter Bockenheimer Warte ausgetauscht. Es geht vordergründig um den Drogentrip von zwei Mädels, der sich irgendwie zu einem Roadtrip verzweigt (Griechenland ist das Land, der Drogenentzug das Ziel) und schließlich zu der Suche nach mütterlicher Liebe wird. Unerfüllt, wie es die Drogenproblematik schon andeutet. Da hilft auch der Intro-Text nicht, dass es Heilung für jeden geben solle, und wenn nicht, dann „mach Dir nichts draus“.

Während die Hauptdarstellerin „Das letzte Mal!“ schwört, als sie von der Krankenhausärztin untersucht wird, ahnt man als Zuschauer schon, dass es nicht das letzte Mal gewesen sein wird. Oder doch?

Nach einem versuchten Rezeptdeal in der Apotheke flieht Sin vor der Polizei und stürzt sich in die U-Bahn. Das Motiv des öffentlichen Nahverkehrs gab es ebenfalls schon bei Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Und hier wie dort bietet dieser Raum Haltepunkte der zerstörten Drogenkarrieren: Das Überreichen eines Heroin-Päckchens mit der Versprechung „I am your sin“ – wer denkt da nicht an Lou Reeds zu Kunst gemachtem Song „It`s a perfect Day“?! -, und zwischen dem Belauschen des über Urlaubsdomizile plaudernden Toilettenpersonals und dem Setzen eines Schusses, der Entschluss, aus dem Drogenalltag abzuhauen. Auf in den Süden, ab nach Griechenland!

Sin pickt ihre Freundin Illy im Rotlichtmilieu auf, um mit ihr in die Sonne zu flüchten. Sie verspricht sich und ihr den Ausstieg aus dem Albtraum Drogen und Prostitution. Und ab geht’s – nun gut, nicht direkt unter Palmen, sondern erst einmal in die Regionalbahn, ins winterliche Domizil von Illys Mutter, nach Kahl am Main.

„Wo sind die Menschen hier?“ fragt Sin, „Hinter den Vorhängen!“ antwortet Illy. Mit amerikanischer Flagge lädt der Bungalow letztendlich in die deutsche Schrankwandidylle ein. Die weder idyllisch noch gesund ist. Weil die durchgerockte Mutter von Illy ihr eigenes Drogenproblem hat. Eines, was in dieser Gesellschaft allerdings toleriert wird, nämlich die Droge Alkohol. Selbst genauso dürr und ausgemergelt wie ihre Tochter, scheint sie ein Spiegelbild zu sein. Vom Bahnhof Zoo, von der Bockenheimer Warte oder einfach nur ein Erklärungsmuster für den Lebensweg ihrer Tochter. Liebe kann sie von Illy allerdings nicht mehr erwarten, das hat sie wohl verspielt. „Sie ist so ein Opfer!“, ätzt Illy über ihre Mutter, ohne dabei zu bemerken, dass sie längst selbst zum Opfer geworden ist …

Beide jungen Frauen ähneln sich nicht nur in ihrer Biografie, die irgendwie austauschbar scheint (irgendwann ist irgendwas ganz gehörig schiefgelaufen: eine Überdosis Liebe haben die Figuren nie bekommen), sondern auch ihre Physiognomie ist nahezu identisch (Heroin zehrt aus!). Zwar stammt die eine aus dem akademischen Umfeld, die andere aus der Unterschicht, aber was sie eint ist, dass beide Töchter offensichtlich eine Bindung zu ihren Müttern suchen, die sie nicht finden. Väter spielen im Film überhaupt keine Rolle. Sowie Männer nur als Randfiguren auftauchen. Das ist mal erfrischend anders in der Kinolandschaft. Ebenso erfrischend ist die verwackelte Handkamera, die das verwackelte Selbst der Protagonistinnen widerspiegelt.

Der Debütfilm von Maria Hengge tut gut daran, Ceci Chuh als Hauptdarstellerin ausgewählt zu haben, die in ihrer spröden aber gleichzeitig souveränen Art den anderen Schauspielern die Show stiehlt (bis auf Angela Winkler, die in ihrem Kurz-Auftritt vermutlich jede, aber auch jede Schauspielerin an die Wand spielen würde!). Chuh konnte bereits in Die Unerzogenen überzeugen, ihr Gegenpart Cosima Ciupek wirkt relativ blass neben ihr. Aber für die eigentliche Intention des Filmes: „Wir müssen Drogenabhängigen mit Respekt begegnen, sie nicht tabuisieren, sondern ihnen Räume geben, in denen sie menschenwürdig leben und – falls sie es selbst wollen – ihre Drogensucht besiegen“ ist das nur förderlich. Maria Hengge, die in den USA geboren aber in Deutschland aufgewachsen ist, hat sich für ihr Langfilmdebüt als Regisseurin Zeit gelassen. Sechs Jahre, von 2009 bis 2015, hat sie für die Produktion von Sin & Illy Still Alive benötigt. Zeit, die so manch Drogenabhängiger nicht (mehr) hat. Seitdem ist der Film auf unzähligen Festivals gelaufen und hat diverse Preise geholt. Man kann dem Film nur wünschen, dass er noch mehr Preise erhält. Verdient hätte er es!

(Silvy Pommerenke)

Die Stationen der Kinotour des Films finden sich hier.

Sin & Illy Still Alive

Allein der Filmtitel lässt den Zuschauer schon zu so manch einer Interpretation hinreißen. Welche Übersetzung läge da nicht näher als die Sünde und das Kränkliche?! Aber sollte es so einfach sein? Bei der Thematik des Filmes wäre skinny natürlich auch denkbar. Vielleicht sogar naheliegender. Oder sind Sin und Illy zwei Seiten einer Person? Ein Alter Ego?
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