Shops Around the Corner

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Kurze Momente von Menschlichkeit

Shops Around the Corner besteht aus Material, das der Filmemacher Jörg Kalt 1998 zusammen mit Kamerafrau Eva Testor in New York aufnahm. Sie landeten an der Ecke Mulberry Street und Grand Street, der ehemaligen Domäne der Italiener in New York, die Ende der 1990er Jahre nach und nach vom angrenzenden Chinatown überflutet wurde. Kalt, der 2007 Selbstmord beging, sollte das gedrehte Material nie montieren. Mit einigen pseudo-emotionalen Titeln und unpassend wirkenden Zitaten wird man in diese Hintergrundgeschichte und das Material eingeführt. Es wird klar, dass es nicht nur der Film von Kalt ist, sondern auch von der Cutterin Nina Kusturica, die Kalt versprochen hatte, den Film fertigzustellen. Somit ist es zudem ein Erinnerungsfilm über den Filmemacher, der immer wieder im Bild auftaucht.
Das Material hat weniger mit Lubitsch zu tun als der Titel, ist aber dennoch faszinierend. Die Lockerheit, mit der hier der Prozess des Filmens mit-dokumentiert wird, trägt jederzeit dazu bei, dass die Menschen und Orte absolut greifbar werden. Es ist ein Stück Direct Cinema in einem Mikrokosmos, der aufgrund seiner Multikulturalität und seiner Probleme zwischen Fremden heute aktueller ist denn je. Kalt und Testor gehen spontan auf Menschen zu, sie begegnen diesen mit bereits laufender Kamera. Kalt hat ein Mikrofon bei sich. Vieles im Film trägt den Geschmack von Mean Streets, überall hängen Poster aus Mafiafilmen, jemand erzählt, wo Scorsese gewohnt hat, ein anderer kratzt sich wie Marlon Brando in The Godfather am Kinn und man trifft den persönlichen Barbier von Robert De Niro. De Niro schwebt sowieso wie ein Geist durch die Sprache, das Verhalten und die Gesten der italienischstämmigen Figuren im Film.

Es gibt einige Personen, denen man immer wieder begegnet, und schnell entfaltet sich eine Dynamik, die einen im Treiben von Little Italy und Chinatown verschwinden lässt. Es gibt einen grimmig-süffisanten älteren Herren, der auf einem Stuhl vor seinem Laden sitzt, eine aufgedrehte junge Frau, die ein Geschäft betreibt, einen Sandwich-Verkäufer, eben jenen Barbier, einen schwarzen Entertainer-Shoparbeiter und so weiter. Sehr schön ist dabei, dass man auch die Kommunikationsprobleme sieht, die sich bei einem solchen Vorgehen einstellen. So spricht eine taubenfütternde Frau mit der Kamera, um am Ende zu bemerken, dass sie gar nicht wisse, mit wem sie da rede. An anderer Stelle verstehen Arbeiter den Filmemacher nicht. Shops Around the Corner ist ein Film voll freundlicher Neugier, der trotz einiger Rückschläge nie müde wird.

Es ist kein Film, der diesen Menschen auf den Grund geht. Vielmehr beweisen Kalt, Testor und Kusturica ein großes Gespür für die Manierismen der Menschen. Dazu gehört eben auch ein bürgerlicher Rassismus, der sich – wie man das oft von Großeltern kennt – hinter einer gewissen Sympathie versteckt. Die Spontanität des Unterfangens entfaltet eine Sogwirkung. Eine humoristische Narration rund um einen dubiosen Vermieter namens Stabile, dem Kalt nachspürt, wirkt etwas deplatziert, passt jedoch letztlich zum Mafioso-Vibe. Dieser zeigt aber gleichzeitig, wie oberflächlich der Film wirklich agiert, da etwas real Existierendes hier schon lange in die Welt des Kinos gerückt ist.

Dennoch vermag diese Oberfläche ein wahrhaftiges Gefühl für den Ort vermitteln. Immer wieder fragt Kalt Shopbesitzer nach der Geschichte ihres Geschäfts: Was war vorher in diesem Laden? Wie lange machen Sie das schon? Es offenbart sich eine Welt der konstanten Veränderungen. Menschen gehen und Menschen kommen. Es gibt einen kurzen Rausch der Eindrücke, der sich zu einem Heimatgefühl verdichtet. Aber gleichzeitig gibt es immer die nächste Person, den nächsten Tag. Es ist ein flüchtiger Film. Kurze Momente von Menschlichkeit und dann zieht man weiter. Am Ende erschrickt man sogar ein wenig, als man mit einer Totalen daran erinnert wird, dass sich dieser Ort in New York befindet.

Shops Around the Corner

„Shops Around the Corner“ besteht aus Material, das der Filmemacher Jörg Kalt 1998 zusammen mit Kamerafrau Eva Testor in New York aufnahm. Sie landeten an der Ecke Mulberry Street und Grand Street, der ehemaligen Domäne der Italiener in New York, die Ende der 1990er Jahre nach und nach vom angrenzenden Chinatown überflutet wurde.
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