Shanghai, Shimen Road

Eine Filmkritik von Iskander Kachcharov

Das einstige Leben in heutigen Ruinen

In den 1980er Jahren erwuchs im Reich der Mitte eine Demokratiebewegung, die maßgeblich von Studenten getragen wurden und den Willen nach politischen und gesellschaftlichen Wandel zum Ausdruck brachte. 1989 wurde diese Bewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen. Shu Haolun reflektiert in seinem ersten Spielfilm diese bewegende und ereignisreichen Epoche in der jüngsten chinesischen Geschichte – und das aus der biographischen Sicht eines Jugendlichen.
Shanghai, Ende der 1980er Jahre: Das traditionelle Shikumen-Quartier rund um die Shimen Road ist Xiaolis Kosmos, um den sich alles kreist. Seit seine Mutter in die USA ausgewandert ist, lebt der 16-jährige Schüler (Ewen Cheng) bei seinem Großvater (Shouqin Xu). Mit einer Fotokamera, die er von seiner Mutter geschenkt bekommen hat und mit der er ihr Fotos aus seinem Alltag schickt, erkundet er sein Leben zwischen den kleinen und engen Backstein-Häusern. Sein liebstes Fotomotiv ist Lanmi (Xufei Zhai), seine beste Freundin, mit der er Tür an Tür lebt und für die Xiaoli mehr als nur freundschaftliche Gefühle entwickelt. Lanmi dagegen will so schnell wie möglich raus aus ihrem verhassten Leben und schaut mit sehnsüchtigen Augen auf westliche Lebensweisen. Bei dem Versuch, sich ihren Traum zu erfüllen, gerät sie auf schlüpfrige Abwege, die ihren heimlichen Verehrer Xiaoli im Innersten verletzen und verwirren. Zu allem Chaos tritt auch noch die energische Schulkameradin Lili (Lili Wang) in das Leben des Jungen, die ihm von den Studentenunruhen und den Protesten gegen das Regime erzählt und ihn dazu auffordert, politisch Stellung zu beziehen.

Das dargestellte traditionelle China mit seiner Parteitreue, mit der unbewältigten Vergangenheit und der systemischen Ignoranz muss im Film beinahe schon zwangsläufig mit den Wünschen und Zielen der jungen Generation kollidieren. Denn es gibt keine Privatsphäre, keine Entfaltungsmöglichkeiten, keine Perspektiven. Die Mutter, geflüchtet vor Konsequenzen, und der Großvater, gezeichnet von den Hinterlassenschaften der Kulturrevolution, sind für Jugendliche wie Xiaoli, Lanmi und Lili keine Vorbilder. Shu Haolun findet für diese essenziellen Nöte und Konflikte in seinen jungen Protagonisten aber keine bombastischen Bilder und monumentalen Momente, sondern verortet diese Missstände im Kleinen und Alltäglichen, in scheinbar kleinen Situationen.

Der Wandel ist im Film allseits präsent. Die mentalen Grabenkämpfe der größten Nation der Welt, stellvertretend von einem Teenager ausgetragen, liegen dabei im Spannungsfeld von sexuellem Erwachen und politischer Meinungsbildung. Das Individuelle trifft auf das Gesellschaftliche und schöpft gerade aus der filmischen Ruhe, die Shu Haolun mithilfe seines Sujets und seiner Bildsprache erzeugt, eine überzeugende und lang anhaltende Wirkung.

Denn Jahrzehnte später stehen in der Shimen Road nur noch verfallene und seelenlose Ruinen, die wohl auf ihr Begräbnis warten, um einem weiteren Wolkenkratzer und damit Inbegriff des Wirtschaftsbooms zu weichen. Die von Xiaoli aufgenommenen und im Film vorher gezeigten Schwarz-Weiß-Fotografien von den einstigen Bewohnern, Traditionen und Lebenswelten werden rückblickend jedoch vordergründig nicht zu mahnenden Dokumenten einer verlorenen Epoche. Sie zeigen lediglich an, dass sich Zeiten ändern, genau wie Menschen und Mentalitäten – und dass sich dieser Wandel im Einzelnen wiederspiegelt.

Shanghai, Shimen Road

In den 1980er Jahren erwuchs im Reich der Mitte eine Demokratiebewegung, die maßgeblich von Studenten getragen wurden und den Willen nach politischen und gesellschaftlichen Wandel zum Ausdruck brachte. 1989 wurde diese Bewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen. Shu Haolun reflektiert in seinem ersten Spielfilm diese bewegende und ereignisreichen Epoche in der jüngsten chinesischen Geschichte – und das aus der biographischen Sicht eines Jugendlichen.
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