Morgen das Leben

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Wie die Schmetterlinge

Kann man in der Mitte des Lebens noch einmal etwas ganz Neues anfangen? So wie die Schmetterlinge, die erst zu fliegen beginnen, wenn sie zwei völlig verschiedene Existenzen hinter sich haben – Raupe und Puppe? Ja, man kann. Wie das geht, welche Schwierigkeiten und Freuden damit verbunden sind, davon erzählt Alexander Riedel in einem wunderbar realistischen und zugleich poetischen Ton.
Morgen das Leben handelt von drei Menschen kurz vor oder kurz nach ihrem 40. Geburtstag. Sie kommen aus ganz verschiedenen Berufen, haben aber ein Motto gemeinsam: „Das kann doch nicht alles gewesen sein“. In jeder der drei selbstständigen Episoden, von denen sich zwei am Ende kurz berühren, lauert der Verdacht, in eine Sackgasse geraten zu sein. Judith zum Beispiel hatte als Sachbearbeiterin im Sozialreferat einen zukunftssicheren Job. Aber die Arbeit am Schreibtisch ödet sie an. Sie kündigt und drückt die Schulbank, um sich zur Kosmetikerin und Masseurin ausbilden zu lassen.

Auch die alleinerziehende Judith hat Träume, die über den Heimarbeitsjob im Telefonmarketing hinausgehen. Früher, als Stewardess, war sie tatsächlich über den Wolken. Jetzt beginnt sie eine erotische Affäre, die zunächst nur übers Telefon läuft. Das gibt ihr die Möglichkeit, sich noch einmal als Flugbegleiterin auszugeben und ihren Fantasien freien Lauf zu lassen.

Jochen hingegen wird eher zwangsweise in die Lage versetzt, sein Leben in eine neue Richtung zu lenken. Um sich endlich eine vernünftige Wohnung leisten zu können, macht der studierte Grafiker Schluss mit den Gelegenheitsjobs und bewirbt sich um eine solide Stelle: als Versicherungsvertreter.

Es sind keine fantastischen Aufbrüche und keine großen Fluchten, die uns hier geschildert werden. Es sind alltägliche Situationen und sehr reale Schwierigkeiten, die das Drehbuchduo Bettina Timm und Alexander Riedel recherchiert und entworfen hat. So real, dass man manchmal glauben könnte, die Darsteller würden sich selbst spielen. Tun sie aber nicht. Alexander Riedel nennt seine Arbeit einen „dokumentarischen Spielfilm“. Schließlich hat der 40-Jährige seit 2000 drei Dokus gedreht und schätzt das authentische Element, selbst wenn das Drehbuch aus dem persönlich Erlebten und dem im Freundeskreis Aufgeschnappten etwas Neues gemacht hat.

So ist zum Beispiel die Bewerbungsszene, in der Jochen bei der Versicherung vorspricht, so echt wie möglich. Als der Personalverantwortliche (im wirklichen Leben), der dann auch im Film mitspielte, die Unterlagen auf dem Tisch hatte, wusste er noch nichts von dem Projekt seines Bekannten Alexander Riedel, sondern dachte, es gehe um eine tatsächliche Stellensuche.

Entsprechend nah an der Wirklichkeit sind auch die anderen, ebenso witzigen wie bitteren Seitenhiebe auf eine Arbeitswelt, in der vor allem jene Berufe eine Chance zu haben scheinen, in denen anderen etwas vorgegaukelt wird: Dass sie unbedingt die drohende Rentenlücke schließen müssen, dass sie sich am Arbeitsplatz aus „Balance“-Gründen massieren lassen müssen oder dass sie unbedingt einen ganz neuartigen Typ von (Männer)Zeitschrift haben müssen, die Computer-Fachwissen mit Lifestyle verbindet.

Trotz der realistischen Grundierung ist Alexander Riedel ein stimmungsvoller Film gelungen, spannungsreich in der Montage, lakonisch in der Dramaturgie und einfühlsam in der Bildgestaltung. Gerade weil er die Hindernisse so ernst nimmt, auf die die Protagonisten stoßen, macht der Film Hoffnung. Das Fliegenlernen lohnt sich allemal, selbst wenn es am Anfang nicht nur steilauf geht.

Morgen das Leben

Kann man in der Mitte des Lebens noch einmal etwas ganz Neues anfangen? So wie die Schmetterlinge, die erst zu fliegen beginnen, wenn sie zwei völlig verschiedene Existenzen hinter sich haben – Raupe und Puppe? Ja, man kann. Wie das geht, welche Schwierigkeiten und Freuden damit verbunden sind, davon erzählt Alexander Riedel in einem wunderbar realistischen und zugleich poetischen Ton.
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