Mommy (2014)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine formatsprengende Erfahrung

Dass Xavier Dolans „Mommy“ kein Film wie jeder andere werden würde, merkte man allein schon am Format. Denn statt des normalen Kinoformats wählt Dolan von Anfang an ein nahezu quadratisches Seitenverhältnis von 5:4, das er im letzten Jahr schon einmal für ein Musikvideo verwendete. Nur an zwei Stellen erweitert sich der Bildrahmen, wobei dieses Öffnen des Blicks beim ersten Mal sehr auffällig inszeniert wird und beim zweiten Mal so beiläufig geschieht, dass man den Wechsel erst im Nachhinein bemerkt.

Der Film selbst spielt in der ganz nahen Zukunft und geht von der Prämisse aus, dass es Eltern von Kindern mit psychischen und emotionalen Defiziten möglich sei, diese ohne richterliche oder amtsärztliche Verfügung in eine Anstalt bringen zu lassen. Steve (Antoine Olivier Pilon) ist so ein Fall, er leidet an einer schweren Form von ADHS und ist seit dem Tod seines Vaters vor drei Jahren abgerutscht. Immer wieder pendelt er zwischen plötzlichen Wutausbrüchen und schwallartigen Wortkaskaden, zwischen kaum zu bändigender Euphorie und schierer Gewalt. Seine Mutter Diane, genannt „Die“ (Anne Dorvak) muss sich permanent um ihren Sohn kümmern und alles andere inklusive ihres normalen Lebens hintenanstellen, nachdem Steve wegen Brandstiftung aus einer Pflegeeinrichtung geworfen wird. Denn sie weiß genau, dass der nächste Schritt nur die Einweisung in eine Anstalt sein kann. In etwas mehr als zwei Stunden Laufzeit schildert Mommy den Leidensweg der beiden, der aber neben den Qualen dieser besonderen Beziehung zugleich so sehr von Lebensfreude und Energie strotzt, dass sich diese direkt von der Leinwand auf den Zuschauer überträgt.

Irgendwann wird aus dem Duo ein Trio, als die ebenfalls angeschlagene Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) als belebendes Element zu der symbiotischen Mutter-Sohn-Beziehung hinzustößt. Anders als Diane ist sie ein eher gehemmter Typ, sie hat sich eine Auszeit genommen, nachdem sie in ihrem Beruf als Lehrerin offensichtlich einen Burn-out erlitt, der eine Sprachstörung bei ihr verursacht hat. Durch sie erhält Steve einen neuen Ansprechpartner und seine Mutter eine Entlastung, die beiden sichtlich gut tut. Auf Dauer aber lässt sich das Unumgängliche nicht aufhalten und so währt die Zeit des Glücks zu dritt nur kurz.

Mommy ist eine echte Wundertüte an formalen Experimenten, ungefilterter Emotion und schauspielerischen Kraftakten, die allesamt direkt ins Herz des Zuschauers zielen (und treffen), ohne dabei allzu sehr auf die Tränendrüse zu drücken. Dolans Stillwillen und Spieltrieb kann man sich dabei kaum entziehen, ebenso der ungeheuren Kraft eines glänzend aufgelegten Ensembles von Darstellern, das hier wirklich alles gibt — eine berauschende, beglückende und bewegende Reise ins Herz der Finsternis, die zugleich das Kunststück vollbringt, dass man sich nach diesem emotionalen Parforce-Ritt auf seltsame Weise gehoben und getragen fühlt. So sehen Kinowunder aus.

Wenn man bedenkt, dass dieser Xavier Dolan gerade mal 25 Jahre alt ist und mit Mommy nun schon seinen fünften Spielfilm vorlegt, kann man nur feststellen, dass dieser frühvollendete Filmemacher so langsam mal im besten Alter für den Gewinn einer Goldenen Palme wäre. Auch wenn es in diesem Jahr „nur“ für die Trophäe für die beste Regie gereicht hat — gemeinsam mit dem Altmeister Jean-Luc Godard, dessen Adieu au langage ebenfalls virtuos mit formalen Aspekten jonglierte -, diesem jungen Mann gehört ganz gewiss die Zukunft des Kinos.
 

Mommy (2014)

Dass Xavier Dolans „Mommy“ kein Film wie jeder andere werden würde, merkte man allein schon am Format. Denn statt des normalen Kinoformats wählt Dolan von Anfang an ein nahezu quadratisches Seitenverhältnis von 5:4, das er im letzten Jahr schon einmal für ein Musikvideo verwendete. Nur an zwei Stellen erweitert sich der Bildrahmen, wobei dieses Öffnen des Blicks beim ersten Mal sehr auffällig inszeniert wird und beim zweiten Mal so beiläufig geschieht, dass man den Wechsel erst im Nachhinein bemerkt.

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