Micmacs - Uns gehört Paris! (2009)

Eine Filmkritik von Florian Koch

Kugel im Kopf

Stilistische Eigenständigkeit kann im Filmgeschäft sowohl Segen als auch Fluch sein. In erster Linie schürt dieser unbedingte künstlerische Gestaltungswille aber vor allem eine ungeheure Erwartungshaltung. Von einem David Lynch-Film erhofft sich der Zuschauer nun mal eine gewisse Mystery-Überzeichnung, da löst eine geradlinige, wunderbar einfach erzählte Geschichte wie The Straight Story zuerst ein Mal ein wenig Befremden aus. Frankreichs Aushängeschild in Sachen individueller Film-Ästhetik ist spätestens seit dem Welterfolg Amélie Jean Pierre-Jeunet. Seine herrlich abgedrehten Figuren, die kauzige Situationskomik und die stilisierten, detailfreudigen Bildtableaus begeistern alle Liebhaber des Skurrilen. Was in Delicatessen oder Die Stadt der verlorenen Kinder aber noch eine wunderbare Einheit zwischen Inhalt und Stil ergab, klappte in Mathilde bereits nicht mehr zufriedenstellend. Die kunstvolle Puppenhaus-Ästhetik rieb sich mit dem zum Teil erschütternden Kriegsszenario. Auch die Besetzung der Hauptrolle mit der rehäugigen Audrey Tautou wollte nicht so Recht funktionieren. Fünf Jahre zog sich Jeunet nach dem zwiespältigen Resultat zurück, feilte an verschiedenen Projekten und lehnte sogar die Regie an einem Harry Potter-Streifen ab. Mit Micmacs — Uns gehört Paris! feiert der Bildmagier jetzt endlich sein Comeback.

Bazil (Dany Boon) ist ein Filmnerd wie er im Buche steht. Er arbeitet nicht nur tagtäglich in einer kleinen Pariser Videothek, nein er ist sogar so besessen vom Medium Film, dass er die Dialoge des Humphrey Bogart-Klassikers Tote schlafen fest eins zu eins nachsprechen kann. Eines Tages wird die fiktive Welt des Gangsterfilms für Bazil Realität, als vor seinem Arbeitsplatz Schüsse fallen. Der unglückselige Bursche läuft naiv auf die Straße, eine Pistole fliegt durch die Luft und eine Kugel landet in der Folge einer typischen Jeunet-Kettenreaktion mitten zwischen seinen Augen. Im Krankenhaus entscheidet man per Münzwurf über sein Schicksal. Die Kugel wird – als Vorsichtsmaßnahme — nicht entfernt. Als wäre diese lebensgefährliche Verletzung nicht schon Strafe genug, verliert Bazil auch noch seinen Job und seine Wohnung. Um zu überleben verdient er sich sein Brot als Straßen-Unterhaltungskünstler. Zufällig lernt er dabei den kauzigen Händler Canaille (Jean-Pierre Marielle) kennen. Der bringt ihn in Kontakt mit einer merkwürdigen Außenseitertruppe, die in einer Art Fundstück-Höhle haust. Mit Hilfe dieser Ansammlung an Irrsinns-Charakteren schmiedet Bazil einen gewieften Racheplan; Er will die beiden skrupellosen Waffenlieferanten François Marconi (Nicolas Marié) und Nicolas Thibault de Fenouillet (André Dussollier), die Basil nicht nur für seine Kugel im Kopf, sondern auch für den Landminen-Tod seines Vaters verantwortlich macht, gegeneinander ausspielen.

Stärker noch als in Mathilde versucht Jeunet in Micmacs eine politische Botschaft zu vermitteln – jedoch in stark satirisch überzeichneter Form. Ins Visier nimmt der Franzose die Waffenlobby. Ähnlich wie im immer noch zu Unrecht unterschätzten Andrew Niccol Film Lord of War wird hier ordentlich ausgeteilt, Zwischentöne Fehlanzeige. Besonders dem in Deutschland wenig bekannten Charakterdarsteller Nicolas Marié gelingt es seine Figur so aalglatt und eiskalt zu verkörpern, dass man vor Schaudern fast zu frösteln beginnt. Überhaupt ist es Jeunet wieder einmal geglückt bis in die kleinste Rolle eine feine Besetzung ans Land zu ziehen.

In der Hauptrolle darf Dany Boon wesentlich mehr schauspielerische Facetten als noch bei Willkommen bei den Sch’tis zeigen. Ob Wortwitz, Chaplin-Anspielungen oder auch eine ungewohnte Traurigkeit. Sein etwas minderbemittelter Bazil bleibt eine spannende, schwer fassbare Figur, die Jeunet in der ursprünglichen Micmacs-Version eigentlich mit Jamel Debbouze besetzen wollte. In der Außenseiter-Truppe glänzt wie gewohnt Jeunet-Stammdarsteller Dominique Pinon als menschliche Kanonenkugel oder die wunderbare Yolande Moreau (Séraphine) als nörgelnde Köchin und heimliche Chefin der Rasselbande.

Für die poetisch-liebenswürdigen Momente ist Michel Cremades zuständig, der als Petit Pierre aus Schrottteilen herrlich originelle Figuren bastelt. Beim Vorstellen der Eigenarten dieser Charaktere ist Jeunet völlig in seinem Element. Jedes noch so winzige Detail hat hier seine Bedeutung und wird eingebettet in eine faszinierend schwelgerische (Müll)-Ausstattung, die ihresgleichen sucht. Ein filmisches Vorbild lässt sich – neben den unweigerlichen Mission Impossible-Anspielungen – dennoch ausmachen: Die Pixar-Schmiede und besonders ihre Hits Monster AG und Wall-E.

Neben all der überbordenen Fantasie, die sich wieder einmal in den ausgefeilten, mit Farbfiltern verfeinerten Bildkompositionen, im virtuosen Schnitt oder in der Auswahl der Filmmusik (mit Max Steiner-Zitaten) zeigt, ist es auch die an sich kleine, aber wendungsreiche Geschichte, die bis zum Schluss mit viel Witz überrascht und auch nicht mit Spannungselementen geizt. Neu in Jeunets Filmkosmos ist eine augenzwinkernde Neigung zur Selbstreferentialität, Er zitiert nicht nur aus seinen Frühwerken, sondern aus Micmacs selbst, wenn er im Hintergrund immer wieder Werbeplakate des eigenen Films prominent ins Bild setzt. Die gewollte spielerische Distanz zum Filmmedium und zum eigenen Werk hat aber einen Haken. Die emotionale Anteilnahme ist bei weitem nicht mehr so hoch wie bei Amélie. Das konsequente Abtauchen in das geschlossene Jeunet-Universum funktioniert nicht mehr. Allerdings ist sich der Franzose dem Einsatz seiner Verfremdungseffekte so bewusst, dass man davon ausgehen kann, dass er diese Problematik – auch auf Grund des gesellschaftskritischen Themas – einfach in Kauf nahm. Allerdings scheitert Jeunet diesmal in der angedeuteten Liebesgeschichte. Julie Ferrier gibt sich als biegsame Mademoiselle Kautschuk alle Mühe, aber ihre Zuneigung zu Basil wird nur behauptet, lässt sich aber emotional kaum nachvollziehen. Zu wenig stimmt die Chemie hier zwischen den Darstellern.

Trotz diesem Malus auf der zwischenmenschlichen Ebene ist Jean-Pierre Jeunet mit Micmacs alles in allem ein großer Wurf gelungen. Seine unverwechselbare Handschrift hat sich nicht abgenutzt – im Gegenteil. Die Fülle an visuellen und inhaltlichen Ideen macht im besten Sinne sprachlos und lädt zum Staunen und Verweilen ein. Es bleibt aber abzuwarten, wie die Entwicklung für Jeunet weitergeht, denn die Produktionskosten von über 42 Millionen Dollar wurden bis jetzt nicht mal zur Hälfte eingespielt.
 

Micmacs - Uns gehört Paris! (2009)

Stilistische Eigenständigkeit kann im Filmgeschäft sowohl Segen als auch Fluch sein. In erster Linie schürt dieser unbedingte künstlerische Gestaltungswille aber vor allem eine ungeheure Erwartungshaltung. Von einem David Lynch-Film erhofft sich der Zuschauer nun mal eine gewisse Mystery-Überzeichnung, da löst eine geradlinige, wunderbar einfach erzählte Geschichte wie „The Straight Story“ zuerst ein Mal ein wenig Befremden aus. Frankreichs Aushängeschild in Sachen individueller Film-Ästhetik ist spätestens seit dem Welterfolg „Amélie“ Jean Pierre-Jeunet.

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Meinungen

Metz · 01.11.2009

Ein einfach fabelhaft verrückter Film!
Jeunet hat es wieder geschafft mich in seinen Bann zu ziehen:
Schöne Bilder, Perspektiven und Farben und vorallem aber Charaktere, die fanatsitsch-einzigartig sind.

"Micmacs à tire-larigot" hat durchaus auch seine gesellschaftskritische Seite und karrikiert auf einer völlig genial-überspitzen Art&Weise die Abgründe unserer Zeit: Waffenhandel, Gewalt und die Menschen, die dafür verantwortlich sind

Man weiß nie wohin Jeunet einen im nächsten Augenblick führt und das macht diesen Film aus!