Merry Christmas, Mr. Lawrence (1983)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Merkwürdige Gesichter

Japanische Melodramen: in ihrer Arbeitsweise oft erheblich verborgener als ihre europäischen oder amerikanischen Genregeschwister. Der Konflikt mag sich in einer einzigen Geste verraten oder einem Wort. Der emotionale Ausbruch wird unterdrückt oder findet einen Umweg. Das Kino lehrt, dass dies eine Sache der japanischen Kultur ist, eine Kultur der Vermeidung individueller Regungen, die in Nagisa Ôshimas Klassiker Merry Christmas Mr. Lawrence (1983) zum Thema wird. Der Film, das ist klar, verdankt seine Bekanntheit seinem extravaganten Casting mehr als seiner filmischen Beschaffenheit. Denn das erotisch hauchende Aufeinandertreffen der beiden musikalischen Superstars David Bowie und Ryuichi Sakamoto (der auch die erfolgreiche Synthesizer-Musik des Films komponierte) in einem indonesischen Gefangenenlager, ist weniger von deren Erdung in realistischen Rollen als von einem Jenseits der Rock’n’Roll-Suicide-Superstars geprägt; ihr abwesend-stechender Blick verrät, dass sie keine Menschen sind, sondern Ideen. Ideen, die verbergen und offenbaren.
Bowie gibt dabei unberührbar den britischen Kriegsgefangenen Celliers. Es ist Indonesien 1942, das Jahr, in dem unter dem japanischen Kaiser Hirohito die schlimmsten Verbrechen verübt wurden. Als er verurteilt werden soll, trifft er auf den japanischen Kapitän Yonoi (Sakamoto), für den Celliers ein Mann ist, der vom Himmel fiel, ein Dämon, eine pure Schönheit. Wie anders könnte er sich sonst seine Anziehung erklären? Er bringt Celliers in sein Gefangenenlager, das für japanische Verhältnisse äußerst sentimental geführt wird. Dort ist auch der titelgebende Lawrence (Tom Conti), der als Vermittler zwischen den Kulturen einen besonderen Status unter den Gefangenen innehat. Von Anfang an erahnt man dort Menschlichkeit. Doch diese macht die Brutalität noch heftiger. Hier ein respektvolles Miteinander, dort die scheinbare Notwendigkeit einer Bestrafung.

Was Ôshima noch mehr interessiert als die Gesichter seiner Musikstars, deren Besetzung auch viel mit Produktionslegende Jeremy Thomas zu tun hat, der häufiger mit Musikern arbeitete, etwa in Black out — Anatomie einer Leidenschaft von Nicolas Roeg mit Art Garfunkel, ist das, was diese Gesichter verbindet. Diese Frage der Annäherung und Distanz zweier Wertesysteme ist bereits in der Produktion des Films angelegt. Ein japanischer Regisseur verfilmt unter britischer Produktion das Buch eines südafrikanischen Autors, Die Saat und der Säer. Merry Christmas Mr. Lawrence erzählt von der Unmöglichkeit und dem Bestreben nach gegenseitigem Verständnis. Im Aufeinandertreffen von Kollektivität und Individualität, Prinzipientreue und spontaner Emotion klaffen Löcher auf, die selbst von unsichtbaren Regungen zwischen den Männern nicht aufgefangen werden können. Hier ist ein Loch des Widerstands, als mögliche Reaktion auf die subjektiv wahrgenommene Ungerechtigkeit, dort ist es das Loch der versuchten Annäherung, das auch immer wieder von sanften Zufahrten der Kamera unterstrichen wird und schließlich gibt es das Loch der zynischen Machtlosigkeit, mit der sich wiederholenden Botschaft: Niemand hat Recht.

Merry Christmas Mr. Lawrence ist auch ein Melodram, weil die sexuellen und spirituellen Regungen in Yonoi sein eigenes Wertesystem und das seiner Umgebung erschüttern. Ein christlich anmutender Kuss auf die Wange, so scheint der Film zu sagen, kann für einige Sekunden den Einsturz der aufklaffenden Löcher bewirken. Groß und keineswegs subtil inszeniert der Filmemacher solche Momente. Zwar haben wir es hier nicht mit im Wind fliegendem Laub oder Schals zu tun wie bei Douglas Sirk und auch die Farben sind für Ôshima-Verhältnisse sehr zurückgenommen, aber einzelne Gesten und Sätze werden durch Kameraarbeit, Montage und Musik mehr als deutlich betont. Wie so oft bei Ôshima entfaltet sich ein perfides und tödliches Machtspiel, das die Schwäche eines Begehrens kaschieren soll. Nicht die Jugend, die sonst das Werk des Filmemachers durchzieht, ist es, sondern die Menschlichkeit an sich, die Raum lassen muss für solche Fatalitäten. Jede Handlung an anderen Menschen verweist dabei auf einen inneren Konflikt der handelnden Person. Ôshimas große Waffe in dieser Ambivalenz ist die Nahaufnahme. In ihr vermag man das zu sehen, was verborgen werden soll.

Es gibt ein weiteres berühmtes Gesicht in diesem Film neben jenen der Rockstars, es ist der Blick, mit dem der Film endet, das Antlitz, das Celliers beim ersten Anblick als „merkwürdiges Gesicht“ beschreibt: Feldwebel Hara, gespielt von einem jungen, fast unschuldigen Kitano Takeshi. In seinem Gesicht zeigt sich in Momenten von Schwäche und Stärke die Utopie einer Menschlichkeit. Als er am Weihnachtsabend sturzbetrunken und im Alleingang dafür sorgt, dass Lawrence und Celliers aus der Einzelhaft freigelassen werden, ist dies ein Akt des Widerstands, der Annäherung und der Selbstaufgabe zugleich. Es gibt die Idee eines Verständnisses im Unverständnis. In seinem merkwürdigen Gesicht findet sich zumindest die Hoffnung einer Brücke, der Empathie zwischen unterschiedlichen Weltsichten.

Bleibt die Frage nach der Position des Films, der sich wie ein unentschiedenes Kind dagegen sträubt, eine Perspektive einzunehmen und daraus auch keine eigene Qualität gewinnen mag. Ein in manchen Versionen fehlender Flashback aus der Kindheit von Celliers ist in dieser neuen digitalen Restaurierung enthalten, er erzählt nur davon, dass es wichtig ist, gegen Ungerechtigkeit einzutreten. Man erfährt weder wirklich von den japanischen Überzeugungen, noch von den britischen, einzig das Missverständnis dazwischen wird greifbar. Dadurch entsteht eine oberflächliche, fast sentimental-populistische Grundhaltung, die im Verborgenen mehr hätte erzählen können, als sie es tut. Ôshima hat mit Merry Christmas Mr. Lawrence einen seiner schwächeren Filme gemacht. Zwei oder drei Gesten und Blicke verharren dennoch als Lichtblitze in einer Geschichte der Unmöglichkeit.

Merry Christmas, Mr. Lawrence (1983)

Japanische Melodramen: in ihrer Arbeitsweise oft erheblich verborgener als ihre europäischen oder amerikanischen Genregeschwister. Der Konflikt mag sich in einer einzigen Geste verraten oder einem Wort. Der emotionale Ausbruch wird unterdrückt oder findet einen Umweg. Das Kino lehrt, dass dies eine Sache der japanischen Kultur ist, eine Kultur der Vermeidung individueller Regungen, die in Nagisa Ôshimas Klassiker „Merry Christmas Mr. Lawrence“ (1983) zum Thema wird.
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